Mai 2018
Auf einem Spaziergang durch das Wohnviertel in Varnas Stadtzentrum entdeckten wir in einer Straße, die parallel zur Glavna Uliza verläuft, eine frische, klaffende Baulücke. Ich kannte die Stelle, hier hatte ein verfallenes, einstmals prächtiges, mehrgeschossiges Haus gestanden. Die Mauern waren bis zum Grund abgetragen und Arbeiter luden gerade eine aus dem Schutt aufgelesene Fuhre Kleinholz und allerhand Bretter auf einen Lkw. Die Männer plagten sich in der Mittagshitze. Mir fiel eine bemerkenswerte (des Bemerkens werte!) Einrichtung auf ihrem offenen Pritschenwagen ins Auge: Die Handwerker hatten etliche Gemälde an den Seitenwänden der Ladefläche hochkant aneinandergestellt. So richteten sie mit den großformatigen Bildern eine robuste Umrahmung her. Der Stapel auf dem Lkw konnte weiter nach oben wachsen und gleichzeitig schützten die Malgründe die Kleinteile der Ladung vorm Herabstürzen während der Fahrt. Sehr praktisch gedacht. Es waren lebhafte Malereien, abstrakte Gebilde und Landschaften, trotz des aufgewirbelten Staubs leuchteten sie farbenfroh. Die meisten Keilrahmen waren aber mit der bemalten Seite diskret nach innen gedreht.
Wanderten die Kunstwerke demnach genauso wie alles andere später in den Ofen oder Kamin? Schwer vorstellbar, dass sie nach dieser Behandlung noch einen höheren als den reinen Brennwert besäßen.
Ich richtete an meine Frau die Bitte, das Geschehen zu fotografieren. Aber dabei unauffällig hinüberzuzielen, als nähme man nicht den Lkw, sondern das Nachbarhaus ins Visier. Doch als sie gerade auf den Auflöser am Handy drückte, schauten die Arbeiter misstrauisch herüber und bekamen Wind von der Sache. Wir liefen eilig weiter um die nächsten zwei Straßenecken, um allen Verwicklungen aus dem Weg zu gehen. Offenbar war uns aber niemand gefolgt und wir gingen vorsichtig eine kurze Strecke zurück bis zur nächsten Abzweigung, da liefen wir einer Frau direkt in die Arme. Sie sprach uns sofort und unverblümt auf das Foto an. Die Bauarbeiter hatten uns wohl ausgezeichnet beschrieben. In Zeiten des gesetzlichen Datenschutzes und des Hochhaltens persönlicher Rechte, glaubte ich schon, sie würde nun die Löschung der Aufnahme verlangen. Statt dessen fragte sie: „Woher kommen Sie? Sind Sie an der Immobilie interessiert?“ Und erklärte: „Dort wird ein mehrstöckiges Gebäude entstehen. Wir bieten noch Eigentumswohnungen in dem Komplex an.“ Wir konnten glaubhaft versichern, nur aus touristischen Motiven ein Foto geschossen zu haben. Alles sei rein privat. Die Dame verabschiedete sich sehr freundlich und damit hatte sich die Sache erledigt.
Natürlich geisterte die Begebenheit aber weiter durch meinen Kopf. Spiegelte sich hier eine heutzutage weit verbreitete Einstellung zu Kunstwerken wieder? Ist das typisch für Bulgarien und den hierzulande überall zu entdeckenden Pragmatismus? Wie gehen wir mit Bildwerken um, die „ihre Zeit hatten“, die niemand mehr möchte? „Ist das Kunst oder kann das weg?“ war gerade so ein populärer Postkartenspruch in Deutschland. Die Frage, was ausgesonderte Kunst über bloßen Abfall erhebt, oder ob sie nichts grundsätzlich anderes ist, beschäftigte mich. Selbstverständlich ist mir klar, dass es zuallererst in der Persönlichkeit und individuellen Position des Betrachters liegt, wie der jeweils Agierende mit Kunstwerken umgeht. Gehen wir einmal davon aus, dass die Bauarbeiter selbst keine Kunstschaffenden waren und zu den durchschnittlich kunstinteressierten Menschen gehören. (Das soll keineswegs bedeuten, es gäbe keine künstlerisch begabten oder in hohem Maße kunstbegeisterten Beschäftigten im Baugewerbe, im Gegenteil. Ich muss es eigentlich nicht extra betonen, sage es aber doch: Kunstsinn wohnt Menschen aller beruflichen Gruppen inne, weder Sozialstatus noch Bildungsgrad entscheidet über mehr oder weniger Kunstempfinden. (Und ich denke hier durchaus ganz besonders an einen Tiefbauarbeiter, der mich jahrelang immer wieder als geschmackvoller Literaturliebhaber und Vielleser in meiner Ausbildung zum Buchhändler beglückte.))
Anerkennenswert ist die pragmatische Lösung, der Erfindergeist, die Bilder, an denen offensichtlich niemand mehr Besitzinteresse hatte, hier noch einmal wenigstens nutzbringend einzusetzen. Indem sie die Ladung sichern, schützen sie auch die anderen Verkehrsteilnehmer vor Gefahren. Die Bauarbeiter hätten sie auch zerfetzen und komplett achtlos auf den Haufen werfen können. Andererseits verstört mich die Respektlosigkeit, mit der die schöpferischen Werke, die einst ganz sicher mit Herzblut ersonnen, konzipiert und gemalt wurden, behandelt wurden. Sie kamen auf den Müll, wurden auf eine Stufe gestellt mit dem Abfall, erfüllten lediglich eine Zusatzaufgabe als Helfer für die Gesamtheit des Mülls, sind gleichsam seine Verpackung, eine bunte Schleife um das Wegwerfbündel.
Im Auge des Betrachters liegt auch folgende Möglichkeit: Man könnte nämlich sagen, die von den Arbeitern getroffene Anordnung der Bilder als Schutzwall ist in gewissem Sinne kunstvoll und zeugt von einer Spur Kreativität. Man könnte sogar so weit gehen – das wäre nicht einmal kühn –, dass sie eine Skulptur geschaffen haben, in der sie Kunst und Rohmaterial der Kunst miteinander verbinden. Die begrenzte Haltbarkeit ihrer „Installation“ entspricht sogar dem Charakter moderner oder postmoderner Kunstauffassungen, die der Flüchtigkeit und Vergängnis künstlerischer Werke das Wort reden. Das Aufladen und Entsorgen von Malereien auf Leinwänden und Holztafeln als „Happening“. Den Schlusspunkt setzte die Verbrennung, gemeinschaftlich mit dem Kleinholzabfall.
Doch von diesen Überlegungen zurück zur Frage des Respektes. Achtsamkeit erwiesen die Beteiligten den Bildern durchaus. Auf jeden Fall hinsichtlich ihres praktischen Restwertes. Wichtig waren ihre sperrigen Abmaße, ihre Festigkeit. Eine ästhetische Beurteilung blieb aus oder brachte ein vernichtendes Ergebnis. Wir wissen nicht, ob jemand eine Vorauswahl getroffen hat. Ob sich Angehörige oder Erben aus dem Konvolut an Bildern vor dem Abbruch des Hauses einige Prachtstücke oder mit Erinnerungen aufgeladene Gemälde ausgesucht haben. Oder ob ein Sachverständiger sie nach dem Bekanntheitsgrad iher Schöpfer und damit nach dem Verkaufswert taxiert und entsprechend ausgewählt hat. Wenn es so war, müssen die auf dem Lastwagen gelandeten als unverkäuflich eingeschätzt worden sein. Aus persönlichem Begehren, sich das Bild zuhause oder in der Vilitschka hinzuhängen, weil der eigene Geschmack getroffen wurde, hat offensichtlich ebenfalls niemand, auch unter den Abbrucharbeitern nicht, Interesse daran gefunden. Gewiss hängt das auch mit der täglichen Bilderflut und der Schwemme an ikonenhaften Reproduktionen, Postern und Fotoabzügen zusammen, der wir alle ausgesetzt sind. Hinzu kommen die Bequemlichkeit und dann vielleicht doch ein allgemeines Desinteresse an Bildender Kunst? Mangelnde Fähigkeit zur Unterscheidung zwischen Hobbymalerei und professioneller Kunst spielt hier keine Rolle. Die Grenzen sind ohnehin fließend, die eine wie die andere kann mit Feuer gekonnt oder brennend ungekonnt entstehen. Womöglich fällt es Nichtexperten sogar leichter, sich in das Bild eines Freizeitmalers zu verlieben, weil das Sujet und die Darstellungsweise ihnen näher und verständlicher ist. Die hochpreisige professionelle Kunst ist bei den nüchternen Betrachtern umstritten, die Einstellung der „Normalverbraucher“ zum Künstlerberuf ist zwiespältig. Erfolgreiche Künstlerstars werden allgemein bewundert, akzeptiert und hofiert. Berufskünstler, die erbittert um Verdienst und Aufmerksamkeit kämpfen müssen – und das ist die Mehrheit aller Kunstschaffenden – stehen hingegen nicht so hoch im Kurs. Gänzlich erfolglose Künstler werden nicht für voll genommen. Sie werden entweder verachtet oder als Bohemiens romantisch verklärt. Dabei sollte gegenüber den mittelmäßigen Künstlern, die noch dazu ihr Künstlersein und ihre (vermeintliche) Andersartigkeit ständig stark betonen, die größte Skepsis herrschen. Ich bin nicht sicher, ob dem immer so ist. Die These „Jeder ist ein Künstler“ (Joseph Beuys) ist in der sogenannten breiten Masse anerkannter als ein elitärer Kunstbegriff und das Geschwafel von einer besonderen oder gar „höheren“ Berufung zur Kunst. Ich kann mich mit dem Gedanken anfreunden, dass jeder Mensch künstlerisches Potential besitzt. Die Entäußerung seiner Kunstfertigkeit lebt jeder in verschiedenem Grade aus, der eine mehr, der andere weniger und mancheiner eben gar nicht. Grundvoraussetzungen für künstlerisches Gestalten und Erschaffen sind und bleiben unsere Sensibilität, das bewahrte Staunen und die erfahrenen Kränkungen. Wer hätte davon überhaupt nichts? Gepaart mit einem Funken Leidenschaft, an den Tag gelegt in irgendeiner Art der Tätigkeit, des Handelns oder des Ausdrucks entsteht daraus Kunst. Vor diesem Hintergrund ist aber zugleich der Stellenwert der Kunst gesunken. Was in jedem schlummert, was jeder glaubt, aus sich abrufen zu können, so er denn nur genügend Muße und Mittel dazu hätte (und die freie Zeit und die technischen Mittel stehen heute so reichhaltig zur Verfügung wie nie zuvor), verliert zwangsläufig an Ansehen.
Ich begrüße die Achtsamkeit der Bauarbeiter gegenüber dem praktischen Wert der Bilder und ihrem Brennwert, wie ich oben bereits erwähnte. Aber ich finde es natürlich schade, dass der Arbeits- und Gedankenaufwand, den die Künstler in die Malereien gesteckt haben, damit völlig missachtet wurde. Etwas anderes ist es, wenn der Schöpfer selbst seine Kunstwerke zerstört oder verbrennt. Wie etwa in Kaurismäkis Film „Das Leben der Boheme“, als der unglückliche Redakteur seine unverkäufliche Zeitschrift dem Ofen übergibt, um sich wenigstens zu wärmen.
Wer sagt mir aber, dass nicht allem Anschein zuwider von Vornherein daran gedacht war, die Bilder zunächst als Sperre für den Transport auszunutzen und nach dem Abladen ihrer eigentlichen Bestimmung gemäß zu verwenden? Die Kratzer, Stöße und die Verschmutzung einfach mit einkalkuliert, wissend in Kauf genommen? Ein geschäftstüchtiger Mensch könnte sie danach sogar immer noch versilbern oder als Tauschobjekt anbieten. Kunstliebhaber würden freilich nicht so handeln.
Und doch müssen wir uns von alten Kunstwerken trennen. Es wurde und wird zu viel an Kunst produziert. Kunst in Hülle und Fülle will unsere Aufmerksamkeit, aber aufgrund ihrer schieren Menge und Masse muss sie auch unwiederbringlich vernichtet werden. Wir können nicht alles aus Achtung vor der geleisteten Arbeit bewahren. Jedem Künstler sollte das beobachtete Geschehen eine Mahnung sein. Das wird eines Tages mit deinen Bildern, deinen Skizzen, deinen Manuskripten passieren. Sie werden den Gang alles Irdischen antreten. Nur eine ganz klitzekleine Minderheit schafft es in die wohltemperierten Depots der Museen und Sammlungen oder in die Obhut wahrer Kunstfreunde.
Und jetzt haben wir bereits ein Jahr lang Corona, öfter und stärker in unseren Köpfen als leibhaftig in unseren Körpern, noch. Und Corona hat die Kunst auf ein Abstellgleis gestellt, weil sie nicht lebensnotwendig ist, sondern nur überlebensnotwendig, verstehe, wer das will … //rf