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Festtage in der Unbestimmtheit und Tausendgesichtigkeit der Metropole

Treffen der Gombroclique 2022 in Berlin

Erstes Zusammentreffen am Abend, gleich nach unserer Ankunft, Gotzkowskystraße, in einem indischen Restaurant. Die Wiedersehensfreude ist groß, das Wiedersehen, für uns Rostocker nach der doppelten Frist, nach zwei Jahren. Denn wir konnten im letzten Jahr in Vence nicht dabei sein. Erste Feststellung (die alle tätigen): keine Veränderung. Niemand ist sichtbar gealtert. Und das trotz Pandemie, Krisen und Kriegsaus­wirkungen. Liegt darin ein Geheimnis? Ist die anhaltende Gombrowicz-Beschäftigung oder weiter gefasst: die Auseinander­setzung mit Literatur, die uns alle eint, ein Jungbrunnen? Ich behaupte es.

Wir lernen endlich Pascal in persona kennen. Gelesen und gehört hatten wir schon viel von ihm. Er gehört sofort dazu. Wie jedesmal reden alle mit-, gegen- und durcheinander, über Kreuz, in Gruppen, in wechselnden Formationen. Auch hier keine Veränderung: Alle, besonders aber Paul, haben Mühe zu verstehen. Zusätzlich erschwert durch die Hintergrundgeräusche im Restaurant. Babylon Berlin.

Das beherrschende Thema ist natürlich der Ukrainekrieg, es kommen auch die anderen erwartbaren Diskussionsthemen „wokeness“, „kulturelle Aneignung“, Gesundheitspolitik usw. auf den Tisch. Wir sind häufig verschiedener Meinungen und das dürfen wir. Daneben planen wir die Vorhaben des nächsten Tages: Elka und Olaf laden zum Arbeitsfrühstück in ihre Wohnung um die Ecke, in der Straße, die nach einem preußischen Staatsrat benannt ist. Kein Gombrocliquentreffen ohne Zusammenkunft zur Arbeit. Rolf möchte aus seiner Neuübersetzung von „Ferdydurke“ vortragen. Und am Samstagabend liest Szczepan Twardoch im Berliner Haus der Festspiele, im Rahmen des 22. Internationalen Literaturfestivals Berlin und sein Übersetzer Olaf, der durch die Veranstaltung führt, hat uns Freikarten besorgt.

Doch das wird morgen sein. Heute Nacht fahren wir durch das niemals schlafende Berlin in Richtung Osten, zur Frankfurter Allee, wo wir dank Tuesday in großem Komfort beherbergt sind.

U-Bahnfahrt mit Maskerade am Samstagmorgen. Wir kommen eine Viertelstunde zu spät, weil wir, abgelenkt durch einen Flohmarkt, erst in die falsche Richtung liefen. Die Fieguths und Paul sind schon da. Der Frühstückstisch ist eine Augenweide und der Anblick hält, was er verspricht. Herausragend die „jajka w sosie tatarskim“ von Elka.

Die neue Fieguthsche Übersetzung und ihre laute Lesung zeigen, wie lebendig dieser Text ist. Wie überraschend aus den Sätzen – oft gelesenen – Neues in Ohr und Auge springt. Wie oft so Heiteres-Hintertüriges, auf den Punkt Gebrachtes, den Hörer erstaunen lässt. In wenigen Büchern kann man immer wieder derart neu beginnen zu lesen und das Verstehen frisch „bespähen“. Schon bald wird die Neuübersetzung im Kampa Verlag erscheinen und in den Buchhandlungen zu erwerben sein. (Witold Gombrowicz, Ferdydurke, neu übersetzt von Rolf Fieguth, Kampa 2022)

Paul hat Ablichtungen von Grafiken und Siebdrucken (von Martina Wagner-Mohr und Hans Landsaat), die von Gombro und seinen Werken inspiriert sind, mitgebracht. Vielleicht werden sie eines Tages im Musée Gombrowicz in Vence oder in Paris ausgestellt. Wir betrachten sie und erfahren, dass die niederländische Literaturzeitschrift SOMA schon im Dezember 1972 Werke von Landsaat in einem Beitrag über Gombrowicz abgedruckt hat. Redakteur der SOMA war vor diesen nunmehr 50 Jahren unser lieber Paul …

Olaf schreibt ein Buch über Russland, wie es das Russland unserer Tage wurde. Rowohlt Berlin hat ihn gebeten. Wer wenn nicht er, hätte die Expertise für diese schwierige Aufgabe. Das geschwungene „Z“ soll das Cover zieren, das wird für Polemik, aber vor allem für die nötige Aufmerksamkeit sorgen. (Olaf Kühl, Z – Kurze Geschichte Russlands, von seinem Ende her gesehen, Rowohlt Berlin, März 2023)

Nach dem Aufbruch ist Zeit zur freien Verfügung, wir wollen uns am Haus der Berliner Festspiele zur Lesung wiedertreffen. Patricia hat sich mit ihrer Freundin C. verabredet. Ich entschließe mich, bis zum Abend durch die Großstadt zu spazieren. Planlos, aber nicht ganz ziellos. Denn ich wollte zum bulgarischen Laden in der Seestraße, Vorräte an Gewürzen zu kaufen. Ich flaniere zu einer passenden Bushaltestelle, doch der nächste kommt erst in 20 Minuten, so folge ich der Buslinie, von Haltestelle zu Haltestelle. Ich lass mich treiben, überall geschäftiger Samstagstrubel, einkaufende Menschen aller Körpergrößen und Altersstufen mit Einkäufen in allen Ausmaßen. Neben den Schreitenden stehende, sitzende, hockende Hauptstädter in allen Tüchern, Sprachen und Farben auf dem Gehweg, vor den Häusern, in den Häusern, vor Cafés, Imbissbuden, Bistros, Restaurants und darin. Der Bus fährt mir davon, was macht das schon. An einer Häuserwand, ganz oben ein Graffito: „Seid unregierbar!“ Hätte es gerade in Berlin nicht richtiger heißen müssen: „Bleibt unregierbar!“ Aber traurig regierbar sind wir schon, nicht im politisch-verwaltungstechnischen Sinne, da ist Berlin offensichtlich unregierbar, sondern im Drang nach Wohlstand und würdigem Leben, also letztlich nach dem Geld, willig regierbar und regiert von den Mächtigen, den Wächtern der Verteilung, den Hütern der Erbregeln, den Stützen der Kapitalgesellschaften. Ist sie so gemeint, ist die Aufforderung „Seid unregierbar!“ weit revolutionärer. Nun bin ich am Westhafen, an der beginnenden Seestraße angekommen, hier noch Schnellstraße, ganz ohne Häuserzeilen. Ich setze mich an der Bushaltestelle, schaue wie alle grundlos auf mein Handy und warte. Der Bus nimmt mich mit, durch die Scheibe sehe ich bald linkerhand die Aufschrift „Magazin Bulgaria“. Ich bekomme in dem gut sortierten Geschäft alles, wonach ich suchte.

Nach Erledigung dieser Aufgabe irre ich auf einem absurden Gang durch den Wedding. Hin und Her, Vor und Zurück, in Unentschlossenheit. Wo fahre ich hin, wo laufe ich hin? Oder steige ich in die U-Bahn, oder S-Bahn? Und wohin soll sie mich bringen? Vielleicht irgendwo einkehren? Aber wo? Alles sieht im ersten Moment wirklich einladend aus. Alles sieht auf den zweiten Blick nicht wirklich anziehend aus. Ich kann mich nicht entscheiden, wie und wo ich die Stunden bis zum verabredeten Treffpunkt verbringen möchte. Als würde die Unbestimmtheit und Tausendgesichtigkeit der Metropole auf meine innere Navigation einwirken. Ich verlaufe mich, kehre um, verwerfe jede neue Idee. Schließlich steige ich in die U-Bahn und fahre zum Ort der Abendveranstaltung. Es ist noch so viel Zeit. Dort gebe ich mich weiter dem ziellosen Erkunden durch den Kiez hin. Letztlich das, was ich mag. Das Spazieren ohne Sinn und Zweck ist Qualitätszeit, ohne Zweifel. Keine Pflichten, keine Eile. Nur Flanieren und über etwas Ungewisses, Nichtbenennbares brüten. Oder über die Gedankenleere im Kopf grübeln: Woher kommt das, dass man Zeit zum Nachdenken hätte, aber lediglich darüber nachzudenken weiß, warum man über NICHTS ernsthaft nachzudenken vermag? Ich hätte viele Entschuldigungen dafür und dennoch ist es einfach schade, dass es so ist, wie es ist.

Am Ende lande ich doch in einem Gasthaus. Ich habe mich anziehen, einladen lassen, von den hübschen Tischen in der Septembersonne, am Ludwigkirchplatz. Am Nebentisch telefoniert ein Enddreißiger oder Anfangvierziger, dem lautstark geführten Gespräch nach, ein Verleger oder Lektor. Sein Gesprächspartner am anderen Ende der Leitung möchte offenbar ein Manuskript zurückziehen oder zu einem anderen Verlag wechseln. Mein Tischnachbar gibt den Mahner und redet ihm ins Gewissen. Während ich Königsberger Klopse, auf einem Kreamikteller-Unikat serviert, speise und mich mit einem Engelhard-Pilsner über die Gedankenleere hinwegzutrösten versuche, gibt er, unerschütterlich selbstbewusst und gut bei Stimme, alles, um den Autor zu halten. Wer wünschte sich nicht einen solchen Kämpfer als Lektor? So einige Male habe ich selbst schon Königsberger Klopse gekocht, ich weiß also, wovon ich rede, wenn ich das Gericht hier im „Kuchel Eck“, am Ludwigkirchplatz 1, sehr loben muss.

Der Tischnachbar erhält einen zweiten Anruf. Er spricht nun Englisch: „Your text is wonderful!“ Da taucht plötzlich eine junge Asiatin (ich vermute, warum auch immer, sofort: eine Japanerin) mit Mund-Nasen-Schutz vor uns auf. Sie telefoniert ebenfalls, hat so einen Knopf im Ohr. Als sie an unseren Tischen vorbeischreitet, gibt es einen kurzen Blickkontakt mit dem mutmaßlichen Lektor, beiderseitig. Einige Meter weiter wechselt sie über einen Zebrastreifen auf die andere Straßenseite und bleibt dort hinter einem Begrenzungsgeländer stehen. Sie ist Erscheinung genug, dass ich sie beobachte. Dabei fällt mir auf, dass die Gesprächspausen der beiden zueinander passen … Offenbar führen sie das Gespräch miteinander! Einmal schaut sie verstohlen herüber. Dann geht sie, immer noch telekommunizierend, auf dem Gehweg der anderen Straßenseite hinter abgestellten Autos weiter, langsam und in der Richtung, aus der sie gekommen war. Vor einer größeren Parklücke, so dass sie gewiss sein kann, dass er es sehen würde (und ich sehe es auch, denn mein Blickwinkel vom dichten Nebentisch ist fast der gleiche), vollführt sie unvermittelt einen Spagatsprung. – Ballettös. Grazil. Gekonnt. Was für eine Szene!

Sie hat die Statur einer Tänzerin. Das Ganze ein Rollenspiel? Ein Flirt, eine erotisch untermalte Annäherung, behutsam, ritualisiert? Leider kann ich nicht jedes Wort, das der Mann daraufhin in sein Handy murmelt, vernehmen. Festzuhalten ist, dass er ein geübter Fernsprecher ist. Jemand, der die Konversation am Smartphone meisterlich beherrscht. Ich verstehe nur seine letzten Worte: „I will catch you!“ Woraufhin sie einen letzten vielsagenden Blick wirft und abdreht. Wie würde wohl das nächste Treffen, das „Catching“ der beiden aussehen? Ist sie auch eine Autorin seines Verlagshauses? Eine junge japanische Erfolgsschriftstellerin, die ihren deutschen Lektor umgarnt? Oder eine Tänzerin, die Kritiken schreibt? Wahrscheinlich das alles und noch viel mehr …

Twardoch war gut drauf. Schlagfertig und gesprächig, ganz anders als bei dem Auftritt vor Jahren im DT, wo er leicht mürrisch wirkte. Die gelesenen Buchpassagen fielen nach den vielen Vorschusssuperlativen etwas dünn aus. Aber die Unterhaltung mit Olaf (die beiden sind ein eingespieltes Team) war kurzweilig und hat Eindruck hinterlassen. Wir geistern danach über den Kudamm. Wohin ist sein Nimbus? Was ist heute noch reizvoll an dieser Straße? Bei solchen Gedanken steht man plötzlich vor einer Tafel mit der Aufschrift „Hier schrieb Robert Musil von 1931 bis 1933 an seinem Roman ‚Der Mann ohne Eigenschaften‘ “. Vergessen wir auch nicht, dass hier Gombro Kaffeehäuser aufsuchte und zu Verabredungen ging. Wir finden nirgends einen Platz in den überteuerten, hässlichen Großlokalen. Gut so, denn schließlich landen wir im Literaturcafé in der Fasanenstraße. Im Wintergarten können wir einen freien Tisch ergattern und die Bedienzeit dauert noch für zwei Runden an.

Sonntag. Im „Kuchenrausch“ brunchen wir, lassen den gestrigen Abend Revue passieren. Tuesday schlägt vor, eine „Erlesene Leiche“ anzufertigen und sie Rita zu schicken. „Cadavre exquis“ aus Berlin. Eine gute Idee, denn Rita ist mit dem Surrealismus vertraut. Sie lernte Salvador Dalì noch persönlich kennen. Und so ziehen wir mit den Bleistiftlinien auf den Papierfaltstreifen eine Verbindung bis nach Paris. Wir schreiben auch jeder eine Zeile auf eine Postkarte für sie. Eine schöne Literatentradition, die angesichts der durchdigitalisierten Kommunikation noch an Wert gewonnen hat.

Mit der U-Bahn fahren wir zur Haltestelle „Rotes Rathaus“ und laufen zum Humboldtforum. Gegenüber der Gebäudefront an der Stelle des ehemaligen Palastes der Republik, auf der anderen Flussseite stand einstens ein Hotel, in dem Norwid gewohnt und auch am „Quidam“ gearbeitet hatte. Das wusste Rolf zu berichten. (Cyprian Norwid, Quidam – Przypowieść/ Parabel und Para-Roman, Polnisch | Deutsch, übers. und herausg. von Rolf Fieguth, Frank & Timme, Berlin 2022) Im Touristeninformationsbüro im Humboldtforum konnten wir später an einem Modell der Stadt aus früheren Zeiten sogar das betreffende Haus identifizieren.

Die ethnologischen Ausstellungen stehen im Lichte der Provenienzforschung, unter dem Blickwinkel der Kolonialismuskritik. Die geraubten oder unterbezahlten Skulpturenschätze nach Afrika, Asien, Ozeanien usw. zurückgeben? Ja. Auch wenn sie dort – dergestalt ein beliebter Einwand – vielleicht nicht so sicher aufbewahrt werden? Ja. Die Kostbarkeiten vorher hier noch allen zeigen? Ja. Dreimal ja. Nach meiner Meinung hat freilich niemand gefragt.

Wenn einem Bildhauer oder Maler, Musiker oder Dichter einmal die Schöpferkraft versiegt, sollte er sich diese Objekte aus den europafernen Gegenden ansehen. Inspirationen zuhauf durch die fremdartigen Gegenstände, die reiche Formensprache. Für uns war es heute zuviel. Zu viele Eindrücke, zu viele Gesichter. Man könnte Stunden allein in einem Saal, vor einem Schaukasten verbringen.

Vor der Heimfahrt essen wir eine leider nur mäßige Currywurst auf dem Alexanderplatz. Wie gut, dass sie die einzige wirkliche Enttäuschung dieser Tage in Berlin war!

Höchstentwickelt?

Es ist nicht nur überheblich, uns Lerchen als die höchste Schöpfung der Natur anzusehen, ich gehe einen Schritt weiter: diese Selbstsicht bezeugt sogar genau das Gegenteil. Wer sich als die Krone der Schöpfung ansieht, kann sie schon mal nicht sein. Denn wer ernsthaft daran glaubt, liefert damit den Beweis für seine Dummheit, für seinen Mangel an Fantasie bei der Betrachtung der anderen Mitwesen.

aus: „Lerchenleben“ (Arbeitstitel) von © Rüdiger Fuchs 2022

Berlin hat eine Gombrowicz-Gedenktafel

Bartningallee 11/13, Montag, 19.7.2021

Gombrowicz-Gedenken ist eine kipplige Angelegenheit. Seine Mehrdeutigkeit, sein Hohn, sein Lachen sind bei solchem Bemühen immer dabei. Wie ehrt man eine Person, die allen konformistischen und formalen Akten der Würdigung kritisch gegenüber stand? Wie erinnert man an ihr Wirken in einer Stadt, so dass Gewesenheit wieder zur Anwesenheit, Vergangenes zur Präsenz wird?

Eingangs verwies Bernd Karwen vom Polnischen Institut genau auf diese Schwierigkeit, einen Individualisten, „der alles in Frage stellte“, in feierlicher Versammlung zu ehren. Was würde er zur Veranstaltung heute sagen? Ehrengast und Zeitzeugin Susanna Fels äußerte spontan: „Er würde uns verspotten!“ Es wäre aber traurig, hätten wir Witold-Gombrowicz-Leser nicht begriffen, dass wir uns jederzeit über jede vorgefasste Meinung – also auch über die seine – hinwegsetzen dürfen. Wir haben die Freiheit, mit ihm umzugehen, wie wir es für richtig halten.
Das polnische Ministerium für Kultur und Nationales Erbe und die Polnische Botschaft hielten es jedenfalls für ratsam, seinen Spuren in der deutschen Hauptstadt endlich ein Denkmal zu setzen.

Bevor die noch mit weiß-rot beschärpter Decke verhängte Gedenktafel feierlich enthüllt wurde, las die Schauspielerin Juliane Torhorst Abschnitte aus den „Berliner Notizen“ (dt. Übers. von Olaf Kühl). Gombrowicz verglich darin Berlin mit dem belebten Paris und der Einwanderermetropole Buenos Aires. Es folgten das vielzitierte Wort Gombrowicz’ von der „Menschenleere“ in Berlin Tiergarten und die bewegende Passage, als der Stipendiat der Ford-Stiftung von Osten her die Düfte Polens und den Vorgeruch seines Todes schmeckt.

Etwa dreißig Interessentinnen und Interessenten waren gekommen und lauschten den Ausführungen am Hauseingang Bartningallee 11/13. Die Geräusche vorbeifahrender S-Bahn-Züge auf den nahen Gleisen erschwerten hin und wieder das Verständnis. Unvermittelt, wie durch einen Schelmenstreich des Verehrten, entschleierte ein Windstoß die Tafel vor der Zeit. Eiligst wurde sie wieder verhüllt.

Dr. Jolanta Miśkowiec, die Vertreterin des Ministeriums, aus dessen Etat die Erinnerungstafel finanziert wurde, hielt die erste offizielle Ansprache, die später von Herrn Karwen dankenswerterweise auf Deutsch wiederholt wurde.

Seine helle Freude hätte Gombrowicz gehabt, sich im Anschluss daran vom Botschafter der Republik Polen in der Bundesrepublik lobpreisen zu hören: „Es besteht kein Zweifel, dass er einer der bedeutendsten Schriftsteller des 20. Jahrhunderts ist.“ Seine Exzellenz der Botschafter, Prof. Andrzej Przyłębski, führte zudem mit Stolz an, dass Gombrowicz den Nobelpreis nur knapp verpasste und ihn wohl, wäre er nicht zu früh verstorben, noch erhalten hätte … – Wer fühlte sich da nicht ein wenig an die „Zelebration“ durch den „Hwg. Gesandten Kosiubidzki“ in „Trans-Atlantik“ erinnert? – Prof. Przyłębski gab dem Ganzen im Folgenden aber Tiefe, indem er die philosophischen Ideen und Geistes­leistungen von Gombrowicz betonte und als wegweisend für die Polnische Literatur bis hin zu den Gegenwartsautoren einordnete. Der Botschafter erinnerte auch an die üble Pressekampagne gegen Gombrowicz in der Volksrepublik, als dieser mit dem Stipendium der Ford-Stiftung in Westberlin lebte. Er meinte, die Verantwortlichen dafür hätten auf diese Weise die eventuelle Rückkehr von Gombrowicz in die Heimat verhindern wollen. Am Ende konstatierte der Diplomat, Philosophie­professor und Kulturwissenschaftler Przyłębski: „Heute, dank des Phänomens der polnischen Solidarność-Bewegung, haben wir keine Teilung von Ost- und Westberlin mehr. Polen ist ebenfalls nicht mehr von der westlichen Welt abgetrennt, sondern wurde Teil des Westens. Das ist auch das Verdienst solch bedeutender Dichter wie Czesław Miłosz und Witold Gombrowicz.“

Der Moment der Enthüllung war herangerückt.

Dr. Jolanta Miśkowiec und Prof. Andrzej Przyłębski

Unter Beifall wurde die Platte freigelegt. Sie ist im Stile des Berliner-Gedenktafel-Programms gehalten, aus Porzellan gefertigt und in Metall gerahmt (vgl. Foto ganz oben). Die Tafel hätte ihm doch geschmeichelt, denke ich. Ein verflüchtigtes ‚n‘ bei „Neoreklamen“, das ist nicht weiter dramatisch.
Vor der Wandtafel stellte der moderierende Bernd Karwen zu guter Letzt der Berlinerin Susanna Fels einige Fragen. Unter den Anwesenden ist sie die einzige, die Gombrowicz persönlich kannte. Und sie weiß viel davon zu erzählen. Sie war seine Freundin und Beraterin in vielen Dingen des Alltags, besorgte Einkäufe und Medikamente für ihn. Sie begleitete ihn ins Kaffeehaus und zu den Treffen mit anderen Literaten wie z. B. Günter Grass. Sie verwahrt noch heute Erinnerungsstücke, die sie aus Gombrowicz’ Händen erhielt. Von unschätzbarem Wert sind die Fotografien, die sie damals von ihm ablichtete. Ohne sie hätten wir kaum Bildzeugnisse seiner Berliner Zeit. Der freundschaftlichen Verbundenheit mit Gombrowicz hält Susanna Fels bis heute die Treue und sie steht mit vielen Persönlichkeiten, Künstlern und Institutionen, die sich mit seinem Leben und Werk beschäftigen, in Kontakt.

Susanna Fels (r.) und Bernd Karwen (Bildmitte)

Die Hausgemeinschaft ist im Vorfeld über die Anbringung der Tafel informiert worden. Einige der Bewohner schlüpften während der Feierlichkeit an uns vorbei ins oder aus dem Haus und gingen ihrer Wege. Die Konfrontation mit dem Nachweis, dass hier ein berühmter Schriftsteller im 15. Stock gewohnt hat, ist spannend. War sein Name einigen zuvor bekannt? Wusste jemand von dem heute hoch geschätzten Vormieter? Wie vielen von ihnen wird die neue Tafel Anlass sein, sich einmal ein Werk des Geehrten zu besorgen und hineinzuschauen?

Die Gombrowicz-Stätte hat hier im Viertel illustre Gesellschaft, nicht nur mit der Akademie der Künste, die ihn seinerzeit auch kurz beherbergte, direkt nebenan. Das „Buchstabenmuseum“ unter der Stadtbahn befindet sich kaum hundert Meter entfernt (vielleicht ist das kleine ‚n‘ hierher abgewandert?).

Am Spreebogen auf der anderen Seite des Flusses fand ich die „Straße der Erinnerung“. Über eine der Büsten in der Nähe seiner Tafel hätte sich Witold Gombrowicz wohl gefreut: Thomas Mann. Zwar blickt der bronzene Thomas in die andere Richtung, dafür aber schaut das Hochhaus Bartningallee 11/13 mit seiner obersten Etage über Dächer und Fluss hinweg bis hierher.

Text und Fotos: R. Fuchs

Mein Dank gilt dem Polnischen Institut Berlin für die Einladung zur feierlichen Enthüllung.

Empfehlung: Radiobeitrag von Arkadiusz Łuba bei Polskie Radio

Was ist der (Rest-)Wert der Bildenden Kunst? Eine Erinnerung aus vorcoronatischer Zeit.

Mai 2018

Auf einem Spaziergang durch das Wohnviertel in Varnas Stadtzentrum entdeckten wir in einer Straße, die parallel zur Glavna Uliza verläuft, eine frische, klaffende Baulücke. Ich kannte die Stelle, hier hatte ein verfallenes, einstmals prächtiges, mehrgeschossiges Haus gestanden. Die Mauern waren bis zum Grund abgetragen und Arbeiter luden gerade eine aus dem Schutt aufgelesene Fuhre Kleinholz und allerhand Bretter auf einen Lkw. Die Männer plagten sich in der Mittagshitze. Mir fiel eine bemerkenswerte (des Bemerkens werte!) Einrichtung auf ihrem offenen Pritschenwagen ins Auge: Die Handwerker hatten etliche Gemälde an den Seitenwänden der Ladefläche hochkant aneinandergestellt. So richteten sie mit den großformatigen Bildern eine robuste Umrahmung her. Der Stapel auf dem Lkw konnte weiter nach oben wachsen und gleichzeitig schützten die Malgründe die Kleinteile der Ladung vorm Herabstürzen während der Fahrt. Sehr praktisch gedacht. Es waren lebhafte Malereien, abstrakte Gebilde und Landschaften, trotz des aufgewirbelten Staubs leuchteten sie farbenfroh. Die meisten Keilrahmen waren aber mit der bemalten Seite diskret nach innen gedreht.

Wanderten die Kunstwerke demnach genauso wie alles andere später in den Ofen oder Kamin? Schwer vorstellbar, dass sie nach dieser Behandlung noch einen höheren als den reinen Brennwert besäßen.

Ich richtete an meine Frau die Bitte, das Geschehen zu fotografieren. Aber dabei unauffällig hinüberzuzielen, als nähme man nicht den Lkw, sondern das Nachbarhaus ins Visier. Doch als sie gerade auf den Auflöser am Handy drückte, schauten die Arbeiter misstrauisch herüber und bekamen Wind von der Sache. Wir liefen eilig weiter um die nächsten zwei Straßenecken, um allen Verwicklungen aus dem Weg zu gehen. Offenbar war uns aber niemand gefolgt und wir gingen vorsichtig eine kurze Strecke zurück bis zur nächsten Abzweigung, da liefen wir einer Frau direkt in die Arme. Sie sprach uns sofort und unverblümt auf das Foto an. Die Bauarbeiter hatten uns wohl ausgezeichnet beschrieben. In Zeiten des gesetzlichen Datenschutzes und des Hochhaltens persönlicher Rechte, glaubte ich schon, sie würde nun die Löschung der Aufnahme verlangen. Statt dessen fragte sie: „Woher kommen Sie? Sind Sie an der Immobilie interessiert?“ Und erklärte: „Dort wird ein mehrstöckiges Gebäude entstehen. Wir bieten noch Eigentumswohnungen in dem Komplex an.“ Wir konnten glaubhaft versichern, nur aus touristischen Motiven ein Foto geschossen zu haben. Alles sei rein privat. Die Dame verabschiedete sich sehr freundlich und damit hatte sich die Sache erledigt.

Natürlich geisterte die Begebenheit aber weiter durch meinen Kopf. Spiegelte sich hier eine heutzutage weit verbreitete Einstellung zu Kunstwerken wieder? Ist das typisch für Bulgarien und den hierzulande überall zu entdeckenden Pragmatismus? Wie gehen wir mit Bildwerken um, die „ihre Zeit hatten“, die niemand mehr möchte? „Ist das Kunst oder kann das weg?“ war gerade so ein populärer Postkartenspruch in Deutschland. Die Frage, was ausgesonderte Kunst über bloßen Abfall erhebt, oder ob sie nichts grundsätzlich anderes ist, beschäftigte mich. Selbstverständlich ist mir klar, dass es zuallererst in der Persönlichkeit und individuellen Position des Betrachters liegt, wie der jeweils Agierende mit Kunstwerken umgeht. Gehen wir einmal davon aus, dass die Bauarbeiter selbst keine Kunstschaffenden waren und zu den durchschnittlich kunstinteressierten Menschen gehören. (Das soll keineswegs bedeuten, es gäbe keine künstlerisch begabten oder in hohem Maße kunstbegeisterten Beschäftigten im Baugewerbe, im Gegenteil. Ich muss es eigentlich nicht extra betonen, sage es aber doch: Kunstsinn wohnt Menschen aller beruflichen Gruppen inne, weder Sozialstatus noch Bildungsgrad entscheidet über mehr oder weniger Kunstempfinden. (Und ich denke hier durchaus ganz besonders an einen Tiefbauarbeiter, der mich jahrelang immer wieder als geschmackvoller Literaturliebhaber und Vielleser in meiner Ausbildung zum Buchhändler beglückte.))

Anerkennenswert ist die pragmatische Lösung, der Erfindergeist, die Bilder, an denen offensichtlich niemand mehr Besitzinteresse hatte, hier noch einmal wenigstens nutzbringend einzusetzen. Indem sie die Ladung sichern, schützen sie auch die anderen Verkehrsteilnehmer vor Gefahren. Die Bauarbeiter hätten sie auch zerfetzen und komplett achtlos auf den Haufen werfen können. Andererseits verstört mich die Respektlosigkeit, mit der die schöpferischen Werke, die einst ganz sicher mit Herzblut ersonnen, konzipiert und gemalt wurden, behandelt wurden. Sie kamen auf den Müll, wurden auf eine Stufe gestellt mit dem Abfall, erfüllten lediglich eine Zusatzaufgabe als Helfer für die Gesamtheit des Mülls, sind gleichsam seine Verpackung, eine bunte Schleife um das Wegwerfbündel.

Im Auge des Betrachters liegt auch folgende Möglichkeit: Man könnte nämlich sagen, die von den Arbeitern getroffene Anordnung der Bilder als Schutzwall ist in gewissem Sinne kunstvoll und zeugt von einer Spur Kreativität. Man könnte sogar so weit gehen – das wäre nicht einmal kühn –, dass sie eine Skulptur geschaffen haben, in der sie Kunst und Rohmaterial der Kunst miteinander verbinden. Die begrenzte Haltbarkeit ihrer „Installation“ entspricht sogar dem Charakter moderner oder postmoderner Kunstauffassungen, die der Flüchtigkeit und Vergängnis künstlerischer Werke das Wort reden. Das Aufladen und Entsorgen von Malereien auf Leinwänden und Holztafeln als „Happening“. Den Schlusspunkt setzte die Verbrennung, gemeinschaftlich mit dem Kleinholzabfall.

Doch von diesen Überlegungen zurück zur Frage des Respektes. Achtsamkeit erwiesen die Beteiligten den Bildern durchaus. Auf jeden Fall hinsichtlich ihres praktischen Restwertes. Wichtig waren ihre sperrigen Abmaße, ihre Festigkeit. Eine ästhetische Beurteilung blieb aus oder brachte ein vernichtendes Ergebnis. Wir wissen nicht, ob jemand eine Vorauswahl getroffen hat. Ob sich Angehörige oder Erben aus dem Konvolut an Bildern vor dem Abbruch des Hauses einige Prachtstücke oder mit Erinnerungen aufgeladene Gemälde ausgesucht haben. Oder ob ein Sachverständiger sie nach dem Bekanntheitsgrad iher Schöpfer und damit nach dem Verkaufswert taxiert und entsprechend ausgewählt hat. Wenn es so war, müssen die auf dem Lastwagen gelandeten als unverkäuflich eingeschätzt worden sein. Aus persönlichem Begehren, sich das Bild zuhause oder in der Vilitschka hinzuhängen, weil der eigene Geschmack getroffen wurde, hat offensichtlich ebenfalls niemand, auch unter den Abbrucharbeitern nicht, Interesse daran gefunden. Gewiss hängt das auch mit der täglichen Bilderflut und der Schwemme an ikonenhaften Reproduktionen, Postern und Fotoabzügen zusammen, der wir alle ausgesetzt sind. Hinzu kommen die Bequemlichkeit und dann vielleicht doch ein allgemeines Desinteresse an Bildender Kunst? Mangelnde Fähigkeit zur Unterscheidung zwischen Hobbymalerei und professioneller Kunst spielt hier keine Rolle. Die Grenzen sind ohnehin fließend, die eine wie die andere kann mit Feuer gekonnt oder brennend ungekonnt entstehen. Womöglich fällt es Nichtexperten sogar leichter, sich in das Bild eines Freizeitmalers zu verlieben, weil das Sujet und die Darstellungsweise ihnen näher und verständlicher ist. Die hochpreisige professionelle Kunst ist bei den nüchternen Betrachtern umstritten, die Einstellung der „Normalverbraucher“ zum Künstlerberuf ist zwiespältig. Erfolgreiche Künstlerstars werden allgemein bewundert, akzeptiert und hofiert. Berufskünstler, die erbittert um Verdienst und Aufmerksamkeit kämpfen müssen – und das ist die Mehrheit aller Kunstschaffenden – stehen hingegen nicht so hoch im Kurs. Gänzlich erfolglose Künstler werden nicht für voll genommen. Sie werden entweder verachtet oder als Bohemiens romantisch verklärt. Dabei sollte gegenüber den mittelmäßigen Künstlern, die noch dazu ihr Künstlersein und ihre (vermeintliche) Andersartigkeit ständig stark betonen, die größte Skepsis herrschen. Ich bin nicht sicher, ob dem immer so ist. Die These „Jeder ist ein Künstler“ (Joseph Beuys) ist in der sogenannten breiten Masse anerkannter als ein elitärer Kunstbegriff und das Geschwafel von einer besonderen oder gar „höheren“ Berufung zur Kunst. Ich kann mich mit dem Gedanken anfreunden, dass jeder Mensch künstlerisches Potential besitzt. Die Entäußerung seiner Kunstfertigkeit lebt jeder in verschiedenem Grade aus, der eine mehr, der andere weniger und mancheiner eben gar nicht. Grundvoraussetzungen für künstlerisches Gestalten und Erschaffen sind und bleiben unsere Sensibilität, das bewahrte Staunen und die erfahrenen Kränkungen. Wer hätte davon überhaupt nichts? Gepaart mit einem Funken Leidenschaft, an den Tag gelegt in irgendeiner Art der Tätigkeit, des Handelns oder des Ausdrucks entsteht daraus Kunst. Vor diesem Hintergrund ist aber zugleich der Stellenwert der Kunst gesunken. Was in jedem schlummert, was jeder glaubt, aus sich abrufen zu können, so er denn nur genügend Muße und Mittel dazu hätte (und die freie Zeit und die technischen Mittel stehen heute so reichhaltig zur Verfügung wie nie zuvor), verliert zwangsläufig an Ansehen.

Ich begrüße die Achtsamkeit der Bauarbeiter gegenüber dem praktischen Wert der Bilder und ihrem Brennwert, wie ich oben bereits erwähnte. Aber ich finde es natürlich schade, dass der Arbeits- und Gedankenaufwand, den die Künstler in die Malereien gesteckt haben, damit völlig missachtet wurde. Etwas anderes ist es, wenn der Schöpfer selbst seine Kunstwerke zerstört oder verbrennt. Wie etwa in Kaurismäkis Film „Das Leben der Boheme“, als der unglückliche Redakteur seine unverkäufliche Zeitschrift dem Ofen übergibt, um sich wenigstens zu wärmen.

Wer sagt mir aber, dass nicht allem Anschein zuwider von Vornherein daran gedacht war, die Bilder zunächst als Sperre für den Transport auszunutzen und nach dem Abladen ihrer eigentlichen Bestimmung gemäß zu verwenden? Die Kratzer, Stöße und die Verschmutzung einfach mit einkalkuliert, wissend in Kauf genommen? Ein geschäftstüchtiger Mensch könnte sie danach sogar immer noch versilbern oder als Tauschobjekt anbieten. Kunstliebhaber würden freilich nicht so handeln.

Und doch müssen wir uns von alten Kunstwerken trennen. Es wurde und wird zu viel an Kunst produziert. Kunst in Hülle und Fülle will unsere Aufmerksamkeit, aber aufgrund ihrer schieren Menge und Masse muss sie auch unwiederbringlich vernichtet werden. Wir können nicht alles aus Achtung vor der geleisteten Arbeit bewahren. Jedem Künstler sollte das beobachtete Geschehen eine Mahnung sein. Das wird eines Tages mit deinen Bildern, deinen Skizzen, deinen Manuskripten passieren. Sie werden den Gang alles Irdischen antreten. Nur eine ganz klitzekleine Minderheit schafft es in die wohltemperierten Depots der Museen und Sammlungen oder in die Obhut wahrer Kunstfreunde.

Und jetzt haben wir bereits ein Jahr lang Corona, öfter und stärker in unseren Köpfen als leibhaftig in unseren Körpern, noch. Und Corona hat die Kunst auf ein Abstellgleis gestellt, weil sie nicht lebensnotwendig ist, sondern nur überlebensnotwendig, verstehe, wer das will … //rf

Paris pandemisch

2.  bis 4. Oktober 2020

Nach unserem letzten Gombrotreffen in der Schweiz, in Fribourg, an dem Rita Gombrowicz leider nicht teilnehmen konnte, haben wir nun ihren runden Geburtstag nachgefeiert, in Paris. Ursprünglich für den Mai vorgesehen, wurde auch unsere Verabredung Opfer der allgemeinen Aufschübe und Aufhebungen, die im Zusammenhang mit der Covid-19-Ausbreitung um sich griffen. Wir hofften, im Oktober habe sich die Coronawelle in Europa genügend abgeflacht. In der Tat gab es zumindest keine Reisebeschränkungen mehr, allerdings aufgrund wieder erheblich ansteigender Infektionszahlen Reisewarnungen. Für unsere Zielregion, die Île de France, galt bereits seit einigen Wochen der „Alarme renforcée“ und die Einstufung als „Risikogebiet“ seitens des deutschen Auswärtigen Amtes.

Mit dem ihr eigenen Humor lud Rita uns dennoch unerschrocken zum „petit bal masqué“ nach Paris, zu einem Arbeitstreffen in ihre Wohnung am Freitag Abend. Am Samstag hatten wir die Ehre, zu einem Mittagessen im Restaurant „Chez Loulou“ im Gebäude des Musée des Arts Décoratifs ihr Gast zu sein. Hier ergab sich die glückliche Konstellation, nicht nur wiederholt nachträglich auf ihren Geburtstag und unser aller Gesundheit anstoßen, sondern zugleich den 30. Jahrestag der wiedergewonnen deutschen Einheit feiern zu dürfen – und das mit den Freunden aus Frankreich, Polen und den Niederlanden, in Paris! Und Sonntag besuchten wir einen kleinen Empfang im geräumigen Appartement ihrer Freundin, der Literaturprofessorin und Übersetzerin Malgorzata Smorag. Soweit das Programm des Aufenthalts in der französischen Metropole.

Logiert haben wir nach der Airbnb-Methode, ich für meinen Teil mit einem schlechten Gewissen, angesichts der Wohnungspreise, horrenden Mieten und vor allem der in der gleichen Straße an Hauseingängen campierenden Obdachlosen. Doch ist es kaum möglich, im Pariser Zentrum für sechs bis acht Personen eine bezahlbare Unterkunft zu finden, die noch dazu die Vorteile eines gemeinsamen Wohnbereichs und Essenraums bietet. Ausgestattet mit allem üblichen Komfort, erwies sich das Airbnb-Appartement als erschreckend stillos, geradezu unfranzösisch. Durchweg grellweiße Nichtfarbe an den Wänden, Türen und Schränken sterilisierte es mit allzu großem Erfolg. Symptomatisch die Wandbehängung (vgl. Foto): drei Stadtkarten gleicher Machart von New York, London und Paris. Drei Metropolen der Welt, die zum Glück immer noch sehr unterschiedlich sind, werden hier nebeneinander zum Gleichnis für den globalisierten Beherbergungsbetrieb ohne jede Einzigartigkeit. Diese Bleibe könnte in jeder beliebigen Weltstadt nichts als ihren rein touristischen Zweck erfüllen. Gerechterweise muss man sagen, dass man unter normalen Bedingungen und bei schönstem Wetter als Parisbesucher kaum eine Minute des Tages und Abends hier zubrächte. Man schliefe nur in dieser vom nächtlichen Grau gedämpften Einheitsweiße. Doch in Zeiten der Pandemie mit der Maskenpflicht unter freiem Himmel und als Kürzestbesucher? Wir haben es zum Frühstück und am fortgeschrittenen Abend verstanden, dennoch eine gewisse Gemütlichkeit zu erzeugen. Und wir haben durch unsere Persönlichkeiten mit verschiedenen Temperamenten sowie mit unseren Gesprächen Farbe in diese Behausung gebracht.

Vielleicht ist diese Blässe der Airbnb-Wohnung mir umso mehr aufgefallen, als das schöne Zuhause von Rita mit dem großflächigen wunderbaren Gemälde (das allein schon eine weite Palette an bezaubernden Farbtönen in den Raum wirft), darüber hinaus mit seiner warmen Beleuchtung und den Bücherwänden eine angenehme Atmosphäre verströmte. Wir leerten so manche Flasche Champagner aus ihren Beständen, speisten gemeinsam von den dargebotenen Köstlichkeiten. Die Gespräche drehten sich um die Lage und das Geschehen am Theater und auf den Büchermärkten im Allgemeinen und hinsichtlich der Gombrowicz-Werke. In Litauen erlebt er einen anhaltenden Boom, berichtete Rita. Ansonsten sieht es in Europa, mit Ausnahme Polens versteht sich, schlechter aus. In Argentininen ist er hingegen bekannt und beliebt wie nie, vor allem bei der jüngeren Lesergeneration. Durch die Coronamaßnahmen fehlen zurzeit allerdings weltweit und insbesondere in Frankreich die Aufführungen seiner Stücke auf der Bühne.

Wir tauschten im Folgenden vertrauliche Informationen zu Vertragsverhandlungen mit Verlegern, Buchprojekten sowie sehr Persönliches aus, das hiesigen Orts nicht weiter beschrieben sein soll.

Die Stimmung war hervorragend und wir lachten über Pauls Scherze, Ritas Späße und die Portion Situationskomik, die sich stets zu ergeben pflegt, wenn muntere Geister in mindestens drei Sprachen miteinander konversieren. Gleichwohl fehlten uns zur absoluten Seligkeit Tuesday und Patricia, die wir vermissten.

Die Rückfahrt geschah in Grüppchen mit zwei Taxis, da es regnete. Unser Chauffeur sprach ein wenig Deutsch, ein Algerier, nutzte geschickt die nette Unterhaltung zu einem Umweg aus. Jedenfalls hatte ich das Gefühl, dass er viel zu weit in östlicher Richtung an der Seine entlang fuhr.  Und tatsächlich, wir zahlten fünf Euro mehr als die anderen. Aber was ist in Paris schon eine Taxirechnung von 15 Euro? Und es sei dem Taxifahrer in diesen – auch für seinen Berufszweig nicht leichten – Zeiten verziehen, ja vergönnt. Wir ließen den Abend mit einem Glas Rotwein in der Wohnung in der Rue de Rivoli und einigen resümierenden Betrachtungen ausklingen.

Am Morgen zum Boulanger, Croissants und Pains au chocolat, Nescafé und Tee zum petit déjeuner, 13 Uhr die Verabredung mit Rita. Wir machten uns auf den Weg und trafen sie par hasard am Straßenübergang zur anderen Seite der Rue de Rivoli und gingen gemeinsam in das Restaurant. Strenge Kontrollen am Einlass, wir mussten unsere Taschen öffnen und unsere Hände mit Gel unter den Augen der Sicherheitskräfte desinfizieren. „Chez Loulou“ … Dem Restaurantpersonal werden wir zumindest für den einen Tag im Gedächtnis bleiben: als unentschiedene Gäste, die zunächst nicht wie vorgesehen am eingedeckten Tisch im Separee Platz nehmen, sondern lieber auf die Terrasse wechseln möchten. Kaum hatten wir uns dort draußen eingerichtet und mit wärmenden Decken versorgt, verdüsterte sich der Himmel, wehte plötzlich ein schärferer Wind und wir mussten anerkennen, dass wir im Innenraum doch besser aufgehoben wären und wechselten erneut. Eine Erkältung könnte heutzutage fatale Folgen zeitigen! Die Angestellten spiegelten es mit einem Lächeln, hier ist der Kunde König. „Table à la fois délicate et frivole, on y partage le bon et le beau, de jour comme de nuit, avec sensualité et grâce infinie.” – so heißt es in einem Werbetext von der Webseite des Restaurants.

Das Verwechslungsspiel mit dem sprudeligen und dem stillen Wasser begann und die Wahl des Rotweins gestaltete sich etwas kompliziert: Rita wünschte eine Empfehlung und die Serviererin sprach sehr schnell und mit hoher Stimme, dazu unter der Schutzmaske, sie war schwer zu verstehen. Am Ende brachte sie neue, spezielle Gläser und einen exzellenten Rotwein aus dem Languedoc. Ich wählte Thunfisch: “Thon mi-cuit Riviera, pesto, artichauts, tomates confites, asperges vertes”. Raffiniert, köstlich. Zum Dessert doppelter Espresso für mich. „Café gourmand“, ein wunderbares Arrangement aus mehreren kleinen Schokoladen- und Törtchenleckerbissen, serviert zusammen mit einem Espresso, so die Wahl meiner Tischnachbarinnen, sah auch sehr verlockend aus. Doch ich verzichtete aufgrund gewisser Anti-Zucker-Schwüre.

Hernach war Zeit zur Verfügung für eigene Unternehmungen. Ich spazierte an der Seine entlang, Richtung Notre Dame. Stöberte bei den Bouquinistes und in Buchhandlungen. An der Place St. Michel waren relativ viele Menschen, lauschten einem kleinen Straßenorchester. Doch die ansonsten tausenden Touristen rings um die Île de la Cité waren merklich abwesend. Die Franzosen waren sehr diszipliniert (von wegen nur die Deutschen!), so gut wie alle trugen die Maske, die wenigen ohne rauchten gerade. Ich bekam bei den Bouquinistes, wonach ich seit Jahren suchte: Jarrys „Surmâle“ und „Dr. Faustroll“ und für Olaf eine Céline-Biografie bei Gibert (einer Art „Wohlthat’schen Buchhandlung“ für günstige Gelegenheiten). Zurück zum Appartement durch den Louvrekomplex. Wenig Betrieb herrschte rund um die Glaspyramiden.

Sonntag, wir frühstückten (von den Resten vom Vortage) im Haus. Die nächste Verabredung erst gegen 17 Uhr. Also freie Zeit, ein Teil der Reisegesellschaft möchte zum Père Lachaise, Paul und ich wollten lediglich promenieren. Wir gingen aber alle gemeinsam los. Richtung Place de la République, vorbei am Molière-Denkmal, zu St. Eustache, zum Forum des Halles, das komplett anders aussieht, als ich es kannte, modernisiert im Stile eines Galaktischen Einkaufszentrums. Im Park davor die Wege nach Dichtern benannt: Saint John-Perse, André Breton. Im Lego-Laden die Kathedrale Notre Dame, unzerstört, aus Plaste-Bausteinen. Olaf schickte davon ein Foto an seinen Enkel. Antwort: „coole Kirche“.

Am Centre Pompidou suchten wir ein Café auf. Sehr guter, starker Espresso. Paul erzählte mir die Genese und Geschichte seiner Ingeborg-Bachmann-Übersetzungsarbeit.

Foto: Olaf Kühl

Dann trennten wir uns, Paul und ich marschierten allein zurück. An St. Merry vorbei, wo gerade die Sonntagsmesse zuendeging. Wir traten ein und schritten einmal durch die Kirche. Unergründlich, wie eine Person allein, dieser grausam zugerichtete Jesus, eine weltumspannende Religion gründen konnte, so etwa sagt Paul zu mir, und ich dachte auch oft so und begreife es nicht. Ich bin ungetauft, ein Kind des „realen Sozialismus“, glaube an ein höheres Prinzip, höhere Wesen vielleicht, sogar fest an Vorsehung, Liebe und Schicksal, aber an einen Gott und einen Sohn Gottes? Mich würde man schnell einen Kopf kürzer machen, würden Ultrareligiöse zu mächtig. Wir wunderten uns über den wenig französisch klingenden Namen Merry. Inzwischen weiß ich, dass St. Merry ein Priester und Mönch war, der eigentlich Medericus hieß. Er wurde im Jahre 884 während der Belagerung von Paris durch die Normannen zum Schutzpatron des rechten Seineufers gewählt. Paul und ich gelangten als erste wieder zur Wohnung und wir unterhielten uns dort weiter, dann arbeitete jeder ein bisschen für sich, lesen, schreiben, die Lieben daheim kontaktieren. Die anderen trudelten darauf ebenfalls allmählich ein, hielten Mittagsruhe und schließlich trafen wir Vorbereitungen zum Aufbruch.

Wir beschlossen, den Weg zu Fuß zu gehen, nach der Routenbeschreibung von Rita. Doch es zog sich länger hin als gedacht und es begann zu regnen. Zunächst noch moderat, doch dann goss es so gewaltig, dass wir uns unterstellen mussten. Endlich fanden wir die Rue du Sentier, die besagte Hausnummer existierte doppelt, doch schließlich fanden wir die richtige Pforte. Wir kamen daher eine halbe Stunde verspätet zur Einladung. Rita hatte uns schon erwartet, aber die Gastgeberin blieb entspannt. Es folgte heftiges Wirken und dabei lebhafter Austausch der Damen in der offenen Küche zur Herrichtung des Büfetts. Die ganze Wohnung über zwei Etagen ist eher ein Palast, oder zumindest Palastflügel. Enorme Deckenhöhe, breite Holztreppe, sehr geräumig und künstlerisch, effektvoll eingerichtet. Der Regisseur Wolski, dessen Film gezeigt und der eigentlich in Person dabei sein wollte, hatte krankheitsbedingt abgesagt. Champagner wurde ausgeschenkt, Wodka der Marke „Pan Tadeusz“ schon mal zum Vorgeschmack präsentiert. Olaf arrangierte ein Gruppenfoto, auf meine Bitte schon jetzt, damit ich noch daran teilhaben konnte. Denn für mich – quel dommage! – tickte bereits die Uhr. Gerade erst als Autor eines Buches mit dem Titel „Gombroman“ vorgestellt, hieß es schon wieder bald Abschied zu nehmen. Schließlich wurde, fünf Minuten bevor ich gehen musste, das Büfett eröffnet. Aufgeschnittener gebeizter Lachs mit Kräuterrand, Salzgurken, Brote, Dips, Käsetafel. Ich nahm nur wenige Happen und sagte Adieu. Das nächste Treffen der Gombroclique solle in Vence stattfinden, versicherten wir einander.

Ich beeilte mich, rechtzeitig zum Gare de l’Est zu kommen. Durch die Rue du Faubourg Saint-Dénis, die noch von Einkaufsgewimmel erfüllt war, dann den Boulevard de Strasbourg hinauf. Es gelang. Der ICE setzte sich pünktlich in Bewegung, mit mir an Bord.

Am Montag erklärte die Pariser Administration das gesamte Gebiet zur Zone des „Alarme maximale“ und setzte wieder drastischere Einschränkungen in Kraft. //rf

Fotos, wenn nicht anders gekennzeichnet: Rüdiger Fuchs

weitere Bilder auf similitudo.de

vom Parisbesuch 2015: hier

Un malentendu

Kürzlich erinnerte ich mich an folgende Begebenheit: Bei einem der Gespräche, die ich mit Rita Gombrowicz führen durfte, stellte sich heraus, dass sie eine Zeit lang glaubte, der Titel der „Gombrowicz-Blätter“ hinge mit dem Wort „Blattern“ zusammen. Frankophone sehen nicht selten großzügig über unsere Umlaute hinweg und das kann leicht für Verwechslungen sorgen. Madame Gombrowicz war irritiert über diese Wortbildung und meinte darin eine Anspielung auf Witolds jugendliche Hautprobleme (von denen er ihr berichtet hatte) oder Ähnliches zu finden. (Wir wissen durch „Kronos“, dass ihn später Ekzeme plagten.) Vielleicht dachte sie auch daran, dass die Berührung mit dem Werk Gombrowicz‘ die Leser wie eine ansteckende Krankheit befällt und für das ganze Leben zeichnet?

Ich habe Gombrowicz durchaus wie eine Krankheit „durchgestanden“ und Narben blieben zurück. Der „Gombroman“ erzählt davon. Aber es sind keine entstellenden Narben und in Todesgefahr schwebte ich auch nicht. Von den Pocken – „Blattern“ ist nur ein anderes, älteres Wort dafür – geht keine tödliche Bedrohung mehr aus. Sie sind laut WHO inzwischen ausgerottet. Dafür entstehen immer wieder andere Erreger – wie jetzt die Coronaviren – und neue Seuchengefahren.

Natürlich konnte ich das Missverständnis „Blattern“ /„Blätter“ aufklären.
Als Bewohner der Küste gefiele mir eine andere Assoziation besser: und zwar die mit den Seepocken. Sie setzen sich bekanntermaßen an Gesteinen, Schiffsrümpfen, Walleibern und Muscheln fest. Je nachdem, ob wir Gombrowicz nun als Dampfer, Molluske oder Stein mit Pockenbewuchs oder gar als kleine ewig mitreisende Seepocke selbst betrachten möchten, eröffnen sich vielfältige Interpretationen … rf

Toujours source d’inspiration

Witold Gombrowicz (1904-1969) inspiriert noch immer. / Witold Gombrowicz (1904-
1969), toujours source d’inspiration.
Datum/Date: 18.10.19, 18.30 -20.00 Uhr
Ort/Lieu: La Rotonde, BCU Fribourg, Rue Joseph-Piller 2

Witold Gombrowicz (1904-1969) inspiriert auch noch ein halbes Jahrhundert nach seinem
Tod. Eine kleine kreative Fan-Clique würdigt ihn in Gesprächen und Lesungen aus
Gombrowiczs und aus eigenen Werken. Teilnehmer sind: Paul Beers, Tuesday Bhambry,
Rüdiger Fuchs, Olaf Kühl, sowie Rolf Fieguth. Wir hoffen auf die Anreise unserer Freundin
Rita Gombrowicz. Ein bescheidener Aperitif steht bereit.

Witold Gombrowicz (1904-1969) reste une source d’inspiration encore tant d’années après
sa mort. Un petit cercle d’adorateurs créatifs l’honore, sous forme de discussions et de
lectures. Les invités sont: Paul Beers, Tuesday Bhambry, Rüdiger Fuchs, Olaf Kühl, ainsi que
Rolf Fieguth. Nous espérons que notre amie Rita Gombrowicz pourra venir de Paris. Un petit
apéro sera servi.

Lebenslauf – rückwärts

 

 

 

Vor fünfzig Jahren: In der Nacht vom 24. auf den 25. Juli 1969 stirbt Witold Gombrowicz an Atemnot. Der nicht ganz 65-jährige Pole litt seit seiner Jugend an Asthma. Er stirbt fern der zwei Heimaten, die er hatte, in Vence, in Südfrankreich.

Einen Tag nach dem letzten Weihnachtsfest hatte er seine Gefährtin der vergangenen fünf Jahre geehelicht, Rita Marie Labrosse, eine Franco-Kanadierin und Literaturwissenschaftlerin. Das Paar fand in dem kleinen Städtchen in den Alpes Maritimes, nahe der Côte d’Azur eine Bleibe. In ihrer gemeinsamen Wohnung in der Villa Alexandrine wurden sie viel besucht. Literaten, Maler, Journalisten, Übersetzer, vielfach polnische Landsleute, oft sogar aus der Volksrepublik, statteten dem zu dieser Zeit endlich berühmten, gleichwohl umstrittenen Autor einen Besuch ab, darunter z. B. Sławomir Mrożek, Jan Lenica sowie Gustave Le Clézio und Czesław Miłosz, Letztere beide künftige Nobelpreisträger. 1967 erhielt Gombrowicz, der auch als Nobelpreisanwärter gehandelt wurde, den Prix Formentor, den angesehenen Internationalen Verlegerpreis für sein Buch „Kosmos“. 1966 nannte ihn das schwedische Radio als einen Kandidaten für den Nobelpreis, 1967 soll das Stockholmer „Aftenbladet“ vor der Entscheidung gefragt haben: „Wer bekommt den Nobel? Asturias, Gombrowicz oder Malraux?“, 1968 war er tatsächlich in der engsten Wahl neben Kawabata und Beckett.

Seine spätere Ehefrau, Rita Labrosse, lernte er 1964 in Royaumont bei Paris kennen. Für drei Monate lebte er durch Vermittlung von Freunden im Cercle Culturel de Royaumont, einer Art Schriftstellerheim. Ende Mai 1964 hatte er in Paris die Redaktion der polnischen Zeitschrift „Kultura“ und ihren legendären Herausgeber und Chefredakteur Jerzy Giedroyc getroffen. Für die bedeutende Zeitschrift des Exilverlages „Instytut Literacki“ schrieb Gombrowicz 18 Jahre lang Beiträge. Giedroyc hatte ihn zum Verfassen eines Tagebuches ermutigt.
Am 17. Mai 1964 landete er mit einer Maschine in Paris. Er kam aus Berlin, genauer gesagt Westberlin, wo er knapp ein Jahr als Stipendiat der Ford Stiftung gewohnt hatte. Zuletzt lag er jedoch zwei Monate, schwer erkrankt, in einer Privatklinik im Westen der Vier-Sektoren-Stadt. Die Berliner Erlebnisse haben ihren Niederschlag in seinen „Berliner Notizen“ gefunden, die in Deutschland als eigenständiges Werk erschienen, aber auch in sein „Tagebuch“ aufgenommen wurden. In der Volksrepublik Polen wurde ihm die Annahme des Stipendiums und der Aufenthalt in der „Bastion des kapitalistischen Westdeutschlands“ verübelt. Als ein nicht autorisiertes sogenanntes Interview, mit missverständlichen, aus dem Zusammenhang gerissenen Äußerungen in Polen erschien, wurde eine wilde Pressekampagne gegen Gombrowicz losgetreten. Er wehrte sich mit Richtigstellungen per Brief an die Redaktionen der Zeitungen, die gar nicht oder nur verzögert und gekürzt gebracht wurden. Zu Beginn seines Berlinaufenthalts war der polnische Gast im Gebäude der Akademie der Künste untergebracht. Dort befreundete er sich mit Ingeborg Bachmann. Französisch miteinander parlierend, spazierten sie durch den Bezirk Tiergarten. Gombrowicz versuchte, einen literarischen Stammtisch in Berlin zu etablieren. Er traf sich mit Günter Grass, Peter Weiss, Uwe Johnson – ohne zu einem tieferen gegenseitigen Verständnis zu finden. Was neben der Sprachbarriere an Unterschieden in Temperament und Trinkgewohnheiten und nicht zuletzt an Gombrowicz’ Egozentrik lag. Das Projekt des literarischen Kaffeehausstammtisches, wie er sie aus Buenos Aires und dem Warschau der Vorkriegszeit kannte, scheiterte. Dafür knüpfte er zahlreiche erotische Kontakte zu jungen Männern, die ihn zeitweilig ganz schön in Atem hielten.
Nach Berlin war er über die Zwischenstationen Paris und Cannes gekommen. In Cannes hatte das Schiff „Federico Costa“ angelegt, mit diesem Dampfer war er aus Argentinien nach Europa gefahren, um den Gastaufenthalt als Stipendiat in Berlin anzutreten.

Von 1963 bis 1939 lebte Gombrowicz in Argentinien. Er hatte den südamerikanischen Kontinent und – abgesehen von mehreren Kurzreisen in das benachbarte Uruguay – auch Argentinien dreiundzwanzigeinhalb Jahre lang nicht verlassen. Die meiste Zeit verbrachte er in der Hauptstadt Buenos Aires. Auf etlichen Ausflügen und Urlaubsreisen lernte er aber auch andere Regionen des Landes kennen. Mehrfach hielt er sich in der Provinzstadt Tandil auf, wo sich ein Kreis junger Leser um ihn scharte. Das polnische „Tauwetter“ erlaubte die Neuauflage seines Buches „Ferdydurke“ und die Veröffentlichung des Romans „Trans-Atlantik“ mit seinem Theaterstück „Die Trauung“ in einer gemeinsamen Ausgabe in Polen im Jahr 1957. Außerdem erschien ein Sammelband seiner Erzählungen „Bakakaj“ (benannt nach dem Straßennamen eines seiner Wohnsitze in Buenos Aires, der „calle bacacay“) in der Volksrepublik. Mit Roland Martin übersetzte er seinen Roman „Ferdydurke“ ins Französische. Er war froh, als er 1955 der polnischen Auslandsbank den Rücken kehren konnte. Die Tätigkeit in der Banco Polaco verschaffte ihm ein wenn auch geringes, so doch regelmäßiges Einkommen. Er erledigte geschäftliche Korrespondenz und fand dabei genügend Zeit, Erzählungen zu schreiben. 1948 kam mit finanzieller Hilfe von Cecilia Benedit de Debenedetti eine spanische Übersetzung und Edition seines Dramas „Die Trauung“ zustande. Es blieb zunächst genauso erfolglos wie sein ein Jahr zuvor in spanischer Sprache erschienenes und bis dahin wichtigstes Werk „Ferdydurke“. Eine Gruppe argentinischer und kubanischer Freunde hatte seit 1946 in wiederkehrenden Sitzungen gemeinschaftlich an einer Übersetzung seines Romans „Ferdydurke“ getüftelt.

Er stürzte sich in das Nachtleben, entdeckte die Orte und Treffpunkte der Homosexuellenszene in Buenos Aires für sich und ging eine Vielzahl intimer Beziehungen mit Menschen beider Geschlechter ein. Die ersten argentinischen Jahre verbrachte er in besonders bitterer Armut. Die finanzielle Unterstützung der polnischen Botschaft und einiger Emigrantenfamilien hielten ihn über Wasser. Als er sich Ende August 1939 entschloss, in Argentinien zu bleiben und die Rückreise nach Europa – aller Wahrscheinlichkeit nach zum Verbündeten Großbritannien – nicht anzutreten, traf er die „tragischste Entscheidung seines Lebens“, wie er später selbst sagte. Der Zweite Weltkrieg war zum Zeitpunkt seines Entschlusses noch nicht ausgebrochen. Gleichwohl stand der Schriftsteller bereits unter dem Eindruck der düsteren Stimmung und drohenden Umstürze in Europa, als er an Bord des Schiffes „Chrobry“ über den Atlantik fuhr. Der Ozeandampfer unter polnischer Flagge absolvierte seine Jungfernfahrt nach Buenos Aires. Eingeladen zu dieser Reise wurde Witold Gombrowicz von der „Gdynia-America-Line“.

Zuletzt war seine Schauergeschichte „Die Besessenen“ als Fortsetzungsroman (unter Pseudonym) in Zeitungen von Warschau, Kielce und Radom erschienen. 1938 führte eine Auslandsreise den 34-Jährigen nach Italien. Im Lande der Mussolini-Begeisterten spürte er bereits „etwas Trübes und Ungeheuerliches, etwas Alptraumhaftes“ (Polnische Erinnerungen, übersetzt von Klaus Staemmler). Während der Rückfahrt nach Polen, auf der Durchreise in Wien, erlebte er den „Anschluss“ Österreichs.

1937 druckte der Verlag Rój seinen ersten Roman „Ferdydurke“. Darin beschreibt er die Bedrängnisse eines unentschiedenen Mannes, der die Schwelle zum dreißigsten Lebensjahr schon überschritten hatte und sich nun von seinen Mitmenschen zu einem unreifen Schulzögling „gefangensetzen“, „verkleinern“, „ertappen“ und „kneten“ lässt sowie nach weiterem „Bespähen“ und „Hineintreiben in die Jugend“ vor der „restlosen Infantilisierung“ flüchtet. Inhalt und Stil dieses Buches waren (und sind) herausfordernd und ungewöhnlich. Gombrowicz legte die Illusion von einer menschlichen Reife und vollendeten Gesittung bloß. Das Werk verschaffte ihm endgültig einen Ruf als Exentriker und die Anerkennung als bedeutendes Schriftstellertalent. Die aufgeworfenen ästhetischen und existentiellen Fragen, die Kämpfe mit der Form und die erfahrene „Verkleinerung“ sollten ihn nie mehr loslassen.

… Und auch in unserer hier erzählten Lebensgeschichte wird er am Ende wieder zum Kind verkleinert, das auf einem Pferderücken aufrecht stehend Balance hält (wie uns ein Photo überliefert). Zu einem Gutsbesitzersöhnchen, das am liebsten mit den Bauernkindern seines Ortes barfuß durch den Schlamm waten möchte …

Doch erst wird er noch ein unersättlicher Kaffeetrinker, Flaneur, Bonvivant und geistreicher Schwadronierer, der durch die Künstlercafés und Klubs Warschaus zog. Fast alle Literaten und Künstler Polens von Rang lernte er seinerzeit in Warschau oder Zakopane persönlich kennen. Er arbeitete als Applikant bei Gericht, in seiner Freizeit schrieb er, spielte Tennis und gab sich ansonsten den Vergnügungen und Debattierfreuden mit seinen Bekanntschaften und Freunden hin. Gombrowicz schrieb Erzählungen, die er zu seiner Erstveröffentlichung, dem Erzählband „Memoiren aus Epoche des Reifens“ vereinigte. Damit erzielte er einen Achtungserfolg, handelte sich aber auch viele gutgemeinte Ratschläge für einen „unreifen“ Debütanten von Rezensenten und „Kulturtanten“ ein.
1927 beendete er in Warschau sein Jurastudium mit dem Magisterabschluss und wechselte nach Paris zur Aufnahme eines weiteren Studiums am Institut des Hautes Études Internationales. In der französischen Hauptstadt gab er sich einem völlig ungeordneten Lebenswandel hin, er vernachlässigte die Studien und reiste nach Südfrankreich und in die Pyrenäen. Sein Vater stellte in der Folge die finanzielle Hilfe ein.

1922 erwarb Gombrowicz das Abitur. Zuvor war der Polnisch-Sowjetrussische Krieg mit dem „Wunder an der Weichsel“ zugunsten des unabhängigen Polen entschieden. Während viele seiner Schulfreunde sich freiwillig zum Kriegsdienst meldeten, leistete der Gymnasiast Gombrowicz Hilfsdienst beim Verschicken von Paketen für die Frontsoldaten. Daneben beschäftigte er sich mit der Geschichte und dem Stammbaum seiner Familie und verfasste eine Chronik des Geschlechts der Gombrowicz.
Seine Eltern hatten ihn auf das Gymnasium nach Warschau geschickt, nachdem er anfangs Privatunterricht genossen hatte. Seine Erlebnisse an der Schule flossen später in seinen ersten Roman ein.
Während des Ersten Weltkrieges erlebte der Knabe die Einquartierung von Soldaten. Ganz in der Nähe des Landsitzes der Familie fanden auch Kampfhandlungen statt.
Das „Königreich Polen“ war zu dieser Zeit Teil des Russischen Zarenreiches und wurde immer wieder von Unruhen erschüttert. Auch Jan Onufry Gombrowicz, der Vater, geriet mit den russischen Machthabern in Konflikt, als er sich bei einem revolutionären Aufruhr auf die Seite seiner Arbeiter stellte. Für lange Zeit schwebte über der Familie sein Gerichtsverfahren mit unklarem Ausgang.
Witold Gombrowicz’ Vater war ein angesehener Guts- und Fabrikbesitzer aus alter, ehemals litauischer Adelsfamilie. Die Ländereien, die er bewirtschaftete, hatte sein Vater Onufry Gombrowicz, der Großvater Witolds, einst gekauft, nachdem er aus Litauen nach Zentralpolen gezogen war. Jan Onufry heiratete Marcela Antonina Kotkowska, die einer begüterten Familie aus der Nachbarschaft entstammte, die auf ihrem Anwesen in Bodzechów residierte.
Als viertes und jüngstes Kind dieser Ehe wurde am 4. August 1904 in Małoszyce, etwa 40 km von Sandomierz und 80 km von Radom, Witold Marian Gombrowicz geboren.

© Rüdiger Fuchs

Das Foto oben zeigt einen Stein aus Vence (links) und einen aus Małoszyce (rechts).

Wahrzeichen

Rostock zum 800.

Ins Abendlicht eines klaren Wintertages getaucht, scheint das Bauwerk aus glühendem Backstein errichtet. Im Frühling, zur Baumblüte, setzt es den weißen Wipfeln der Obstgehölze auf den Höfen des Viertels seine gezackte Krone auf. Wann immer ich von auswärts komme, suchen meine Augen als Erstes nach ihm. Seine Hoheit gibt nicht aufdringlich Signal wie ein Leuchtturm. Sein Anblick befriedet. Ihm wohnt ein Besänftigungs­zauber inne, der mich milde auf das Zuhause und den Alltag in Rostock einstimmt.

Sein schlichter Name „Wasserturm“ vermengt sich gut mit dem Heimatort, denn Wasser ist das bestimmende Element unserer Küstenstadt. Die frühen Siedler benannten sie nach dem hier breiter werdenden Strom und sie tranken das Wasser der Warnow, wie wir noch heute.

Sind St. Petri und der Warnemünder Leuchtturm die erhobenen Zeigefinger der Stadt, so ist der Wasserturm ihre plumpe Tatze. Er reckt sich himmelwärts wie ein Lauf des Wappentiers, die Spitztürmchen sind die Fänge, von denen aber keinerlei Gefahr droht. Sieben kupferne Krallen sind es, die Rostocker Zahl findet sich wieder am Zweckbau, der reichlich Verzierungen trägt. Wie selbstverständlich das Schöne mit dem Nützlichen verbunden wurde!

Als Wasserreservoir dient der Turm nicht mehr. Heute ist er vernachlässigt, abgezäunt, er steht geduldig auf der Warteliste städtischer Aufgaben.

Ich habe ihn nie von innen gesehen. Er wahrt seine Geheimnisse, so wie die vielgestaltige Stadt mir all ihre Rätsel niemals preisgeben wird.