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Festtage in der Unbestimmtheit und Tausendgesichtigkeit der Metropole

Treffen der Gombroclique 2022 in Berlin

Erstes Zusammentreffen am Abend, gleich nach unserer Ankunft, Gotzkowskystraße, in einem indischen Restaurant. Die Wiedersehensfreude ist groß, das Wiedersehen, für uns Rostocker nach der doppelten Frist, nach zwei Jahren. Denn wir konnten im letzten Jahr in Vence nicht dabei sein. Erste Feststellung (die alle tätigen): keine Veränderung. Niemand ist sichtbar gealtert. Und das trotz Pandemie, Krisen und Kriegsaus­wirkungen. Liegt darin ein Geheimnis? Ist die anhaltende Gombrowicz-Beschäftigung oder weiter gefasst: die Auseinander­setzung mit Literatur, die uns alle eint, ein Jungbrunnen? Ich behaupte es.

Wir lernen endlich Pascal in persona kennen. Gelesen und gehört hatten wir schon viel von ihm. Er gehört sofort dazu. Wie jedesmal reden alle mit-, gegen- und durcheinander, über Kreuz, in Gruppen, in wechselnden Formationen. Auch hier keine Veränderung: Alle, besonders aber Paul, haben Mühe zu verstehen. Zusätzlich erschwert durch die Hintergrundgeräusche im Restaurant. Babylon Berlin.

Das beherrschende Thema ist natürlich der Ukrainekrieg, es kommen auch die anderen erwartbaren Diskussionsthemen „wokeness“, „kulturelle Aneignung“, Gesundheitspolitik usw. auf den Tisch. Wir sind häufig verschiedener Meinungen und das dürfen wir. Daneben planen wir die Vorhaben des nächsten Tages: Elka und Olaf laden zum Arbeitsfrühstück in ihre Wohnung um die Ecke, in der Straße, die nach einem preußischen Staatsrat benannt ist. Kein Gombrocliquentreffen ohne Zusammenkunft zur Arbeit. Rolf möchte aus seiner Neuübersetzung von „Ferdydurke“ vortragen. Und am Samstagabend liest Szczepan Twardoch im Berliner Haus der Festspiele, im Rahmen des 22. Internationalen Literaturfestivals Berlin und sein Übersetzer Olaf, der durch die Veranstaltung führt, hat uns Freikarten besorgt.

Doch das wird morgen sein. Heute Nacht fahren wir durch das niemals schlafende Berlin in Richtung Osten, zur Frankfurter Allee, wo wir dank Tuesday in großem Komfort beherbergt sind.

U-Bahnfahrt mit Maskerade am Samstagmorgen. Wir kommen eine Viertelstunde zu spät, weil wir, abgelenkt durch einen Flohmarkt, erst in die falsche Richtung liefen. Die Fieguths und Paul sind schon da. Der Frühstückstisch ist eine Augenweide und der Anblick hält, was er verspricht. Herausragend die „jajka w sosie tatarskim“ von Elka.

Die neue Fieguthsche Übersetzung und ihre laute Lesung zeigen, wie lebendig dieser Text ist. Wie überraschend aus den Sätzen – oft gelesenen – Neues in Ohr und Auge springt. Wie oft so Heiteres-Hintertüriges, auf den Punkt Gebrachtes, den Hörer erstaunen lässt. In wenigen Büchern kann man immer wieder derart neu beginnen zu lesen und das Verstehen frisch „bespähen“. Schon bald wird die Neuübersetzung im Kampa Verlag erscheinen und in den Buchhandlungen zu erwerben sein. (Witold Gombrowicz, Ferdydurke, neu übersetzt von Rolf Fieguth, Kampa 2022)

Paul hat Ablichtungen von Grafiken und Siebdrucken (von Martina Wagner-Mohr und Hans Landsaat), die von Gombro und seinen Werken inspiriert sind, mitgebracht. Vielleicht werden sie eines Tages im Musée Gombrowicz in Vence oder in Paris ausgestellt. Wir betrachten sie und erfahren, dass die niederländische Literaturzeitschrift SOMA schon im Dezember 1972 Werke von Landsaat in einem Beitrag über Gombrowicz abgedruckt hat. Redakteur der SOMA war vor diesen nunmehr 50 Jahren unser lieber Paul …

Olaf schreibt ein Buch über Russland, wie es das Russland unserer Tage wurde. Rowohlt Berlin hat ihn gebeten. Wer wenn nicht er, hätte die Expertise für diese schwierige Aufgabe. Das geschwungene „Z“ soll das Cover zieren, das wird für Polemik, aber vor allem für die nötige Aufmerksamkeit sorgen. (Olaf Kühl, Z – Kurze Geschichte Russlands, von seinem Ende her gesehen, Rowohlt Berlin, März 2023)

Nach dem Aufbruch ist Zeit zur freien Verfügung, wir wollen uns am Haus der Berliner Festspiele zur Lesung wiedertreffen. Patricia hat sich mit ihrer Freundin C. verabredet. Ich entschließe mich, bis zum Abend durch die Großstadt zu spazieren. Planlos, aber nicht ganz ziellos. Denn ich wollte zum bulgarischen Laden in der Seestraße, Vorräte an Gewürzen zu kaufen. Ich flaniere zu einer passenden Bushaltestelle, doch der nächste kommt erst in 20 Minuten, so folge ich der Buslinie, von Haltestelle zu Haltestelle. Ich lass mich treiben, überall geschäftiger Samstagstrubel, einkaufende Menschen aller Körpergrößen und Altersstufen mit Einkäufen in allen Ausmaßen. Neben den Schreitenden stehende, sitzende, hockende Hauptstädter in allen Tüchern, Sprachen und Farben auf dem Gehweg, vor den Häusern, in den Häusern, vor Cafés, Imbissbuden, Bistros, Restaurants und darin. Der Bus fährt mir davon, was macht das schon. An einer Häuserwand, ganz oben ein Graffito: „Seid unregierbar!“ Hätte es gerade in Berlin nicht richtiger heißen müssen: „Bleibt unregierbar!“ Aber traurig regierbar sind wir schon, nicht im politisch-verwaltungstechnischen Sinne, da ist Berlin offensichtlich unregierbar, sondern im Drang nach Wohlstand und würdigem Leben, also letztlich nach dem Geld, willig regierbar und regiert von den Mächtigen, den Wächtern der Verteilung, den Hütern der Erbregeln, den Stützen der Kapitalgesellschaften. Ist sie so gemeint, ist die Aufforderung „Seid unregierbar!“ weit revolutionärer. Nun bin ich am Westhafen, an der beginnenden Seestraße angekommen, hier noch Schnellstraße, ganz ohne Häuserzeilen. Ich setze mich an der Bushaltestelle, schaue wie alle grundlos auf mein Handy und warte. Der Bus nimmt mich mit, durch die Scheibe sehe ich bald linkerhand die Aufschrift „Magazin Bulgaria“. Ich bekomme in dem gut sortierten Geschäft alles, wonach ich suchte.

Nach Erledigung dieser Aufgabe irre ich auf einem absurden Gang durch den Wedding. Hin und Her, Vor und Zurück, in Unentschlossenheit. Wo fahre ich hin, wo laufe ich hin? Oder steige ich in die U-Bahn, oder S-Bahn? Und wohin soll sie mich bringen? Vielleicht irgendwo einkehren? Aber wo? Alles sieht im ersten Moment wirklich einladend aus. Alles sieht auf den zweiten Blick nicht wirklich anziehend aus. Ich kann mich nicht entscheiden, wie und wo ich die Stunden bis zum verabredeten Treffpunkt verbringen möchte. Als würde die Unbestimmtheit und Tausendgesichtigkeit der Metropole auf meine innere Navigation einwirken. Ich verlaufe mich, kehre um, verwerfe jede neue Idee. Schließlich steige ich in die U-Bahn und fahre zum Ort der Abendveranstaltung. Es ist noch so viel Zeit. Dort gebe ich mich weiter dem ziellosen Erkunden durch den Kiez hin. Letztlich das, was ich mag. Das Spazieren ohne Sinn und Zweck ist Qualitätszeit, ohne Zweifel. Keine Pflichten, keine Eile. Nur Flanieren und über etwas Ungewisses, Nichtbenennbares brüten. Oder über die Gedankenleere im Kopf grübeln: Woher kommt das, dass man Zeit zum Nachdenken hätte, aber lediglich darüber nachzudenken weiß, warum man über NICHTS ernsthaft nachzudenken vermag? Ich hätte viele Entschuldigungen dafür und dennoch ist es einfach schade, dass es so ist, wie es ist.

Am Ende lande ich doch in einem Gasthaus. Ich habe mich anziehen, einladen lassen, von den hübschen Tischen in der Septembersonne, am Ludwigkirchplatz. Am Nebentisch telefoniert ein Enddreißiger oder Anfangvierziger, dem lautstark geführten Gespräch nach, ein Verleger oder Lektor. Sein Gesprächspartner am anderen Ende der Leitung möchte offenbar ein Manuskript zurückziehen oder zu einem anderen Verlag wechseln. Mein Tischnachbar gibt den Mahner und redet ihm ins Gewissen. Während ich Königsberger Klopse, auf einem Kreamikteller-Unikat serviert, speise und mich mit einem Engelhard-Pilsner über die Gedankenleere hinwegzutrösten versuche, gibt er, unerschütterlich selbstbewusst und gut bei Stimme, alles, um den Autor zu halten. Wer wünschte sich nicht einen solchen Kämpfer als Lektor? So einige Male habe ich selbst schon Königsberger Klopse gekocht, ich weiß also, wovon ich rede, wenn ich das Gericht hier im „Kuchel Eck“, am Ludwigkirchplatz 1, sehr loben muss.

Der Tischnachbar erhält einen zweiten Anruf. Er spricht nun Englisch: „Your text is wonderful!“ Da taucht plötzlich eine junge Asiatin (ich vermute, warum auch immer, sofort: eine Japanerin) mit Mund-Nasen-Schutz vor uns auf. Sie telefoniert ebenfalls, hat so einen Knopf im Ohr. Als sie an unseren Tischen vorbeischreitet, gibt es einen kurzen Blickkontakt mit dem mutmaßlichen Lektor, beiderseitig. Einige Meter weiter wechselt sie über einen Zebrastreifen auf die andere Straßenseite und bleibt dort hinter einem Begrenzungsgeländer stehen. Sie ist Erscheinung genug, dass ich sie beobachte. Dabei fällt mir auf, dass die Gesprächspausen der beiden zueinander passen … Offenbar führen sie das Gespräch miteinander! Einmal schaut sie verstohlen herüber. Dann geht sie, immer noch telekommunizierend, auf dem Gehweg der anderen Straßenseite hinter abgestellten Autos weiter, langsam und in der Richtung, aus der sie gekommen war. Vor einer größeren Parklücke, so dass sie gewiss sein kann, dass er es sehen würde (und ich sehe es auch, denn mein Blickwinkel vom dichten Nebentisch ist fast der gleiche), vollführt sie unvermittelt einen Spagatsprung. – Ballettös. Grazil. Gekonnt. Was für eine Szene!

Sie hat die Statur einer Tänzerin. Das Ganze ein Rollenspiel? Ein Flirt, eine erotisch untermalte Annäherung, behutsam, ritualisiert? Leider kann ich nicht jedes Wort, das der Mann daraufhin in sein Handy murmelt, vernehmen. Festzuhalten ist, dass er ein geübter Fernsprecher ist. Jemand, der die Konversation am Smartphone meisterlich beherrscht. Ich verstehe nur seine letzten Worte: „I will catch you!“ Woraufhin sie einen letzten vielsagenden Blick wirft und abdreht. Wie würde wohl das nächste Treffen, das „Catching“ der beiden aussehen? Ist sie auch eine Autorin seines Verlagshauses? Eine junge japanische Erfolgsschriftstellerin, die ihren deutschen Lektor umgarnt? Oder eine Tänzerin, die Kritiken schreibt? Wahrscheinlich das alles und noch viel mehr …

Twardoch war gut drauf. Schlagfertig und gesprächig, ganz anders als bei dem Auftritt vor Jahren im DT, wo er leicht mürrisch wirkte. Die gelesenen Buchpassagen fielen nach den vielen Vorschusssuperlativen etwas dünn aus. Aber die Unterhaltung mit Olaf (die beiden sind ein eingespieltes Team) war kurzweilig und hat Eindruck hinterlassen. Wir geistern danach über den Kudamm. Wohin ist sein Nimbus? Was ist heute noch reizvoll an dieser Straße? Bei solchen Gedanken steht man plötzlich vor einer Tafel mit der Aufschrift „Hier schrieb Robert Musil von 1931 bis 1933 an seinem Roman ‚Der Mann ohne Eigenschaften‘ “. Vergessen wir auch nicht, dass hier Gombro Kaffeehäuser aufsuchte und zu Verabredungen ging. Wir finden nirgends einen Platz in den überteuerten, hässlichen Großlokalen. Gut so, denn schließlich landen wir im Literaturcafé in der Fasanenstraße. Im Wintergarten können wir einen freien Tisch ergattern und die Bedienzeit dauert noch für zwei Runden an.

Sonntag. Im „Kuchenrausch“ brunchen wir, lassen den gestrigen Abend Revue passieren. Tuesday schlägt vor, eine „Erlesene Leiche“ anzufertigen und sie Rita zu schicken. „Cadavre exquis“ aus Berlin. Eine gute Idee, denn Rita ist mit dem Surrealismus vertraut. Sie lernte Salvador Dalì noch persönlich kennen. Und so ziehen wir mit den Bleistiftlinien auf den Papierfaltstreifen eine Verbindung bis nach Paris. Wir schreiben auch jeder eine Zeile auf eine Postkarte für sie. Eine schöne Literatentradition, die angesichts der durchdigitalisierten Kommunikation noch an Wert gewonnen hat.

Mit der U-Bahn fahren wir zur Haltestelle „Rotes Rathaus“ und laufen zum Humboldtforum. Gegenüber der Gebäudefront an der Stelle des ehemaligen Palastes der Republik, auf der anderen Flussseite stand einstens ein Hotel, in dem Norwid gewohnt und auch am „Quidam“ gearbeitet hatte. Das wusste Rolf zu berichten. (Cyprian Norwid, Quidam – Przypowieść/ Parabel und Para-Roman, Polnisch | Deutsch, übers. und herausg. von Rolf Fieguth, Frank & Timme, Berlin 2022) Im Touristeninformationsbüro im Humboldtforum konnten wir später an einem Modell der Stadt aus früheren Zeiten sogar das betreffende Haus identifizieren.

Die ethnologischen Ausstellungen stehen im Lichte der Provenienzforschung, unter dem Blickwinkel der Kolonialismuskritik. Die geraubten oder unterbezahlten Skulpturenschätze nach Afrika, Asien, Ozeanien usw. zurückgeben? Ja. Auch wenn sie dort – dergestalt ein beliebter Einwand – vielleicht nicht so sicher aufbewahrt werden? Ja. Die Kostbarkeiten vorher hier noch allen zeigen? Ja. Dreimal ja. Nach meiner Meinung hat freilich niemand gefragt.

Wenn einem Bildhauer oder Maler, Musiker oder Dichter einmal die Schöpferkraft versiegt, sollte er sich diese Objekte aus den europafernen Gegenden ansehen. Inspirationen zuhauf durch die fremdartigen Gegenstände, die reiche Formensprache. Für uns war es heute zuviel. Zu viele Eindrücke, zu viele Gesichter. Man könnte Stunden allein in einem Saal, vor einem Schaukasten verbringen.

Vor der Heimfahrt essen wir eine leider nur mäßige Currywurst auf dem Alexanderplatz. Wie gut, dass sie die einzige wirkliche Enttäuschung dieser Tage in Berlin war!

Lebenslauf – rückwärts

 

 

 

Vor fünfzig Jahren: In der Nacht vom 24. auf den 25. Juli 1969 stirbt Witold Gombrowicz an Atemnot. Der nicht ganz 65-jährige Pole litt seit seiner Jugend an Asthma. Er stirbt fern der zwei Heimaten, die er hatte, in Vence, in Südfrankreich.

Einen Tag nach dem letzten Weihnachtsfest hatte er seine Gefährtin der vergangenen fünf Jahre geehelicht, Rita Marie Labrosse, eine Franco-Kanadierin und Literaturwissenschaftlerin. Das Paar fand in dem kleinen Städtchen in den Alpes Maritimes, nahe der Côte d’Azur eine Bleibe. In ihrer gemeinsamen Wohnung in der Villa Alexandrine wurden sie viel besucht. Literaten, Maler, Journalisten, Übersetzer, vielfach polnische Landsleute, oft sogar aus der Volksrepublik, statteten dem zu dieser Zeit endlich berühmten, gleichwohl umstrittenen Autor einen Besuch ab, darunter z. B. Sławomir Mrożek, Jan Lenica sowie Gustave Le Clézio und Czesław Miłosz, Letztere beide künftige Nobelpreisträger. 1967 erhielt Gombrowicz, der auch als Nobelpreisanwärter gehandelt wurde, den Prix Formentor, den angesehenen Internationalen Verlegerpreis für sein Buch „Kosmos“. 1966 nannte ihn das schwedische Radio als einen Kandidaten für den Nobelpreis, 1967 soll das Stockholmer „Aftenbladet“ vor der Entscheidung gefragt haben: „Wer bekommt den Nobel? Asturias, Gombrowicz oder Malraux?“, 1968 war er tatsächlich in der engsten Wahl neben Kawabata und Beckett.

Seine spätere Ehefrau, Rita Labrosse, lernte er 1964 in Royaumont bei Paris kennen. Für drei Monate lebte er durch Vermittlung von Freunden im Cercle Culturel de Royaumont, einer Art Schriftstellerheim. Ende Mai 1964 hatte er in Paris die Redaktion der polnischen Zeitschrift „Kultura“ und ihren legendären Herausgeber und Chefredakteur Jerzy Giedroyc getroffen. Für die bedeutende Zeitschrift des Exilverlages „Instytut Literacki“ schrieb Gombrowicz 18 Jahre lang Beiträge. Giedroyc hatte ihn zum Verfassen eines Tagebuches ermutigt.
Am 17. Mai 1964 landete er mit einer Maschine in Paris. Er kam aus Berlin, genauer gesagt Westberlin, wo er knapp ein Jahr als Stipendiat der Ford Stiftung gewohnt hatte. Zuletzt lag er jedoch zwei Monate, schwer erkrankt, in einer Privatklinik im Westen der Vier-Sektoren-Stadt. Die Berliner Erlebnisse haben ihren Niederschlag in seinen „Berliner Notizen“ gefunden, die in Deutschland als eigenständiges Werk erschienen, aber auch in sein „Tagebuch“ aufgenommen wurden. In der Volksrepublik Polen wurde ihm die Annahme des Stipendiums und der Aufenthalt in der „Bastion des kapitalistischen Westdeutschlands“ verübelt. Als ein nicht autorisiertes sogenanntes Interview, mit missverständlichen, aus dem Zusammenhang gerissenen Äußerungen in Polen erschien, wurde eine wilde Pressekampagne gegen Gombrowicz losgetreten. Er wehrte sich mit Richtigstellungen per Brief an die Redaktionen der Zeitungen, die gar nicht oder nur verzögert und gekürzt gebracht wurden. Zu Beginn seines Berlinaufenthalts war der polnische Gast im Gebäude der Akademie der Künste untergebracht. Dort befreundete er sich mit Ingeborg Bachmann. Französisch miteinander parlierend, spazierten sie durch den Bezirk Tiergarten. Gombrowicz versuchte, einen literarischen Stammtisch in Berlin zu etablieren. Er traf sich mit Günter Grass, Peter Weiss, Uwe Johnson – ohne zu einem tieferen gegenseitigen Verständnis zu finden. Was neben der Sprachbarriere an Unterschieden in Temperament und Trinkgewohnheiten und nicht zuletzt an Gombrowicz’ Egozentrik lag. Das Projekt des literarischen Kaffeehausstammtisches, wie er sie aus Buenos Aires und dem Warschau der Vorkriegszeit kannte, scheiterte. Dafür knüpfte er zahlreiche erotische Kontakte zu jungen Männern, die ihn zeitweilig ganz schön in Atem hielten.
Nach Berlin war er über die Zwischenstationen Paris und Cannes gekommen. In Cannes hatte das Schiff „Federico Costa“ angelegt, mit diesem Dampfer war er aus Argentinien nach Europa gefahren, um den Gastaufenthalt als Stipendiat in Berlin anzutreten.

Von 1963 bis 1939 lebte Gombrowicz in Argentinien. Er hatte den südamerikanischen Kontinent und – abgesehen von mehreren Kurzreisen in das benachbarte Uruguay – auch Argentinien dreiundzwanzigeinhalb Jahre lang nicht verlassen. Die meiste Zeit verbrachte er in der Hauptstadt Buenos Aires. Auf etlichen Ausflügen und Urlaubsreisen lernte er aber auch andere Regionen des Landes kennen. Mehrfach hielt er sich in der Provinzstadt Tandil auf, wo sich ein Kreis junger Leser um ihn scharte. Das polnische „Tauwetter“ erlaubte die Neuauflage seines Buches „Ferdydurke“ und die Veröffentlichung des Romans „Trans-Atlantik“ mit seinem Theaterstück „Die Trauung“ in einer gemeinsamen Ausgabe in Polen im Jahr 1957. Außerdem erschien ein Sammelband seiner Erzählungen „Bakakaj“ (benannt nach dem Straßennamen eines seiner Wohnsitze in Buenos Aires, der „calle bacacay“) in der Volksrepublik. Mit Roland Martin übersetzte er seinen Roman „Ferdydurke“ ins Französische. Er war froh, als er 1955 der polnischen Auslandsbank den Rücken kehren konnte. Die Tätigkeit in der Banco Polaco verschaffte ihm ein wenn auch geringes, so doch regelmäßiges Einkommen. Er erledigte geschäftliche Korrespondenz und fand dabei genügend Zeit, Erzählungen zu schreiben. 1948 kam mit finanzieller Hilfe von Cecilia Benedit de Debenedetti eine spanische Übersetzung und Edition seines Dramas „Die Trauung“ zustande. Es blieb zunächst genauso erfolglos wie sein ein Jahr zuvor in spanischer Sprache erschienenes und bis dahin wichtigstes Werk „Ferdydurke“. Eine Gruppe argentinischer und kubanischer Freunde hatte seit 1946 in wiederkehrenden Sitzungen gemeinschaftlich an einer Übersetzung seines Romans „Ferdydurke“ getüftelt.

Er stürzte sich in das Nachtleben, entdeckte die Orte und Treffpunkte der Homosexuellenszene in Buenos Aires für sich und ging eine Vielzahl intimer Beziehungen mit Menschen beider Geschlechter ein. Die ersten argentinischen Jahre verbrachte er in besonders bitterer Armut. Die finanzielle Unterstützung der polnischen Botschaft und einiger Emigrantenfamilien hielten ihn über Wasser. Als er sich Ende August 1939 entschloss, in Argentinien zu bleiben und die Rückreise nach Europa – aller Wahrscheinlichkeit nach zum Verbündeten Großbritannien – nicht anzutreten, traf er die „tragischste Entscheidung seines Lebens“, wie er später selbst sagte. Der Zweite Weltkrieg war zum Zeitpunkt seines Entschlusses noch nicht ausgebrochen. Gleichwohl stand der Schriftsteller bereits unter dem Eindruck der düsteren Stimmung und drohenden Umstürze in Europa, als er an Bord des Schiffes „Chrobry“ über den Atlantik fuhr. Der Ozeandampfer unter polnischer Flagge absolvierte seine Jungfernfahrt nach Buenos Aires. Eingeladen zu dieser Reise wurde Witold Gombrowicz von der „Gdynia-America-Line“.

Zuletzt war seine Schauergeschichte „Die Besessenen“ als Fortsetzungsroman (unter Pseudonym) in Zeitungen von Warschau, Kielce und Radom erschienen. 1938 führte eine Auslandsreise den 34-Jährigen nach Italien. Im Lande der Mussolini-Begeisterten spürte er bereits „etwas Trübes und Ungeheuerliches, etwas Alptraumhaftes“ (Polnische Erinnerungen, übersetzt von Klaus Staemmler). Während der Rückfahrt nach Polen, auf der Durchreise in Wien, erlebte er den „Anschluss“ Österreichs.

1937 druckte der Verlag Rój seinen ersten Roman „Ferdydurke“. Darin beschreibt er die Bedrängnisse eines unentschiedenen Mannes, der die Schwelle zum dreißigsten Lebensjahr schon überschritten hatte und sich nun von seinen Mitmenschen zu einem unreifen Schulzögling „gefangensetzen“, „verkleinern“, „ertappen“ und „kneten“ lässt sowie nach weiterem „Bespähen“ und „Hineintreiben in die Jugend“ vor der „restlosen Infantilisierung“ flüchtet. Inhalt und Stil dieses Buches waren (und sind) herausfordernd und ungewöhnlich. Gombrowicz legte die Illusion von einer menschlichen Reife und vollendeten Gesittung bloß. Das Werk verschaffte ihm endgültig einen Ruf als Exentriker und die Anerkennung als bedeutendes Schriftstellertalent. Die aufgeworfenen ästhetischen und existentiellen Fragen, die Kämpfe mit der Form und die erfahrene „Verkleinerung“ sollten ihn nie mehr loslassen.

… Und auch in unserer hier erzählten Lebensgeschichte wird er am Ende wieder zum Kind verkleinert, das auf einem Pferderücken aufrecht stehend Balance hält (wie uns ein Photo überliefert). Zu einem Gutsbesitzersöhnchen, das am liebsten mit den Bauernkindern seines Ortes barfuß durch den Schlamm waten möchte …

Doch erst wird er noch ein unersättlicher Kaffeetrinker, Flaneur, Bonvivant und geistreicher Schwadronierer, der durch die Künstlercafés und Klubs Warschaus zog. Fast alle Literaten und Künstler Polens von Rang lernte er seinerzeit in Warschau oder Zakopane persönlich kennen. Er arbeitete als Applikant bei Gericht, in seiner Freizeit schrieb er, spielte Tennis und gab sich ansonsten den Vergnügungen und Debattierfreuden mit seinen Bekanntschaften und Freunden hin. Gombrowicz schrieb Erzählungen, die er zu seiner Erstveröffentlichung, dem Erzählband „Memoiren aus Epoche des Reifens“ vereinigte. Damit erzielte er einen Achtungserfolg, handelte sich aber auch viele gutgemeinte Ratschläge für einen „unreifen“ Debütanten von Rezensenten und „Kulturtanten“ ein.
1927 beendete er in Warschau sein Jurastudium mit dem Magisterabschluss und wechselte nach Paris zur Aufnahme eines weiteren Studiums am Institut des Hautes Études Internationales. In der französischen Hauptstadt gab er sich einem völlig ungeordneten Lebenswandel hin, er vernachlässigte die Studien und reiste nach Südfrankreich und in die Pyrenäen. Sein Vater stellte in der Folge die finanzielle Hilfe ein.

1922 erwarb Gombrowicz das Abitur. Zuvor war der Polnisch-Sowjetrussische Krieg mit dem „Wunder an der Weichsel“ zugunsten des unabhängigen Polen entschieden. Während viele seiner Schulfreunde sich freiwillig zum Kriegsdienst meldeten, leistete der Gymnasiast Gombrowicz Hilfsdienst beim Verschicken von Paketen für die Frontsoldaten. Daneben beschäftigte er sich mit der Geschichte und dem Stammbaum seiner Familie und verfasste eine Chronik des Geschlechts der Gombrowicz.
Seine Eltern hatten ihn auf das Gymnasium nach Warschau geschickt, nachdem er anfangs Privatunterricht genossen hatte. Seine Erlebnisse an der Schule flossen später in seinen ersten Roman ein.
Während des Ersten Weltkrieges erlebte der Knabe die Einquartierung von Soldaten. Ganz in der Nähe des Landsitzes der Familie fanden auch Kampfhandlungen statt.
Das „Königreich Polen“ war zu dieser Zeit Teil des Russischen Zarenreiches und wurde immer wieder von Unruhen erschüttert. Auch Jan Onufry Gombrowicz, der Vater, geriet mit den russischen Machthabern in Konflikt, als er sich bei einem revolutionären Aufruhr auf die Seite seiner Arbeiter stellte. Für lange Zeit schwebte über der Familie sein Gerichtsverfahren mit unklarem Ausgang.
Witold Gombrowicz’ Vater war ein angesehener Guts- und Fabrikbesitzer aus alter, ehemals litauischer Adelsfamilie. Die Ländereien, die er bewirtschaftete, hatte sein Vater Onufry Gombrowicz, der Großvater Witolds, einst gekauft, nachdem er aus Litauen nach Zentralpolen gezogen war. Jan Onufry heiratete Marcela Antonina Kotkowska, die einer begüterten Familie aus der Nachbarschaft entstammte, die auf ihrem Anwesen in Bodzechów residierte.
Als viertes und jüngstes Kind dieser Ehe wurde am 4. August 1904 in Małoszyce, etwa 40 km von Sandomierz und 80 km von Radom, Witold Marian Gombrowicz geboren.

© Rüdiger Fuchs

Das Foto oben zeigt einen Stein aus Vence (links) und einen aus Małoszyce (rechts).

Gombromanen zu Gast im Literaturhaus Rostock

Am 2. Juni 2016 in Rostock:

Olaf Kühl stellt seine Übersetzung von KRONOS, dem sogenannten Intimen Tagebuch vor.

Außerdem wird der Schriftsteller und Übersetzer aus Berlin mit Rüdiger Fuchs, dem Rostocker Herausgeber der „Gombrowicz-Blätter“, sprechen. Dabei geht es um Gombrowicz als starken Quell der Inspiration und die Aufnahme seines Werks in Deutschland.

Beginn: 20 Uhr
Literaturhaus Rostock
im Peter-Weiss-Haus
Doberaner Straße 21
18057 Rostock

www.literaturhaus-rostock.de

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Foto: 2012 – Olaf Kühl (rechts) bei einer Lesung aus seinem Roman »Tote Tiere« in der Rostocker Buchhandlung »buch…bar«. Daneben (und quicklebendig): Gesprächspartner Fuchs.

Heft 1 und Heft 2

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Heft 2 Dezember/grudzień 2013
ISBN 978-3-937206-12-7

90 Seiten/str.

Inhalt/Spis treści//Contents

Editorial

WITOLD GOMBROWICZ · Briefe an Alicja de Barcza 1955-1966  (herausgegeben, kommentiert und aus dem Polnischen von MAREK ZYBURA unter Verwendung der Übersetzung von Rudolf Richter)

ARKADIUSZ ŁUBA · W. G. – Ohne Betäubung zu Kronos

Rezension/Recenzja//Review:
Neuausgabe der Berliner Notizen im Verlag edition.fotoTAPETA

Faksimiles von 2 Briefen sowie 4 Manuskriptseiten von Kronos

 

Heft 1 Mai/maj 2013
ISBN 978-3-937206-11-0

100 Seiten/str.

Inhalt/Spis treści//Contents

Editorial

SCHAMMA SCHAHADAT · Ein Pole in Deutschland: Witold Gombrowicz in Berlin

DOMINIKA ŚWITKOWSKA · Berliński Kosmos

MIGUEL GRINBERG · Ferdydurkes Fugitivos

MILDA ŽILINSKAITE · El polaco quilombero

PAU FREIXA TERRADAS · Gombrowicz en las literaturas nacionales polaca y argentina

TUL’SI BHAMBRY · Revelation and Disguise: Witold Gombrowicz’s Narrative Strategies of Authenticity and Authorship

ROLF FIEGUTH · La peur et la forme chez Witold Gombrowicz

OLAF KÜHL · Das Summen der Tatsachen – ist endlich der „wahre“ Gombrowicz entdeckt?

JÖRG SEIDEL · Gombrowicz und Gummischutz

RÜDIGER FUCHS · Trans-Atlantyk in Wrocław – Roman-Transplantation ins Heute

Rezension/Recenzja//Review:
A to był Gombrowicz! von D. Świtkowska

Autorenverzeichnis/Indeks autorów//Index of authors

Abbildungsnachweise/Spis ilustracji//Sources of Illustrations

Danksagungen/Podziękowania//Acknowledgements

 

 

„Gombrowicz-Blätter“ mit 2. Ausgabe

38 Briefe von Witold Gombrowicz an seine Vertraute Alicja de Barcza, erstmals auf Deutsch und 24 Briefe davon erstmals überhaupt veröffentlicht – das u. a. bieten die „Gombrowicz-Blätter“ Nr. 2, die gerade erschienen sind.

Die Briefe zeigen einen beflügelten, liebenswürdigen Gombrowicz, wie er zuvor kaum irgendwo zu lesen war.

Die Literaturzeitschrift „Gombrowicz-Blätter“ möchte sich in die Tradition der „Mickiewicz-Blätter“ stellen, die von den frühen 50ern bis in die 70er Jahre in der Bundesrepublik erschienen und sich um die polnisch-deutsche Wiederannäherung sehr verdient gemacht haben. Dabei wendet sie sich an Leser, Autoren, Künstler und Literaturwissenschaftler, die sich mit polnischer Literatur, deutsch-polnischen Themen und ganz allgemein europäischer Verständigung über kulturelle Identitäten auseinandersetzen wollen.

Ausgangs- und Reibungspunkt ist dabei das Wirken des begnadeten Provokateurs Gombrowicz, der in unserem Nachbarland ungebrochene Aktualität genießt. Die Veröffentlichung seiner privaten Aufzeichnungen unter dem Titel „Kronos“ waren die Sensation im polnischen Literaturbetrieb 2013.

In Deutschland erschien gerade die Neuausgabe seiner „Berliner Notizen“ (edition.fotoTAPETA, Berlin) und seit dem 50. Jahrestag seines Berlin-Aufenthaltes als Stipendiat der Ford-Stiftung ist ihm die Zeitschrift „Gombrowicz-Blätter“ gewidmet.

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„Gombrowicz-Blätter“ Nr. 2,

90 z. T. zweifarb. S., mit 6 Faksimiles. ISBN: 978-3-937206-12-7

Ausgabe 2 wurde vom Deutschen Literaturfonds e. V., Darmstadt, finanziell gefördert.

„Gombrowicz-Blätter“ Nr. 1,

ersch. Mai 2013, 100 S. ISBN: 978-3-937206-11-0
Ausgabe 1 wurde von der Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit finanziell gefördert.

Die „Gombrowicz-Blätter“ auf der Leipziger Buchmesse 2014: in Halle 5.

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